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Die Conversations sollen Denkräume zwischen den Autor/innen und ihren Bezugnahmen auf den Referenztext eröffnen. Die Redaktion stellt eine Reihe von Fragen, welche die Autor/innen wählen bzw. auch verwerfen können. Zu antworten, nicht zu antworten und eigene Themen einzubringen, steht den Autor/innen frei.

Conversations Dagmar Fink / Tom Holert

Conzepte /

Wie seid Ihr zu der Form Eures Textes gekommen? Damit frage ich nach Euren formalen Entscheidungen: der Schreibweise, dem Aufbau Eures Textes, der Auswahl der Beauvoirzitate, der Rolle anderer Materialien und der Art, sie in Euren Text einzubauen – wie z.B. ein Foto, einen Blog, ein Poster, einen Song, oder ein anderes Buch.

Tom Holert /

Meine formalen Entscheidungen sind, so simpel es klingt, der Form oder vielmehr: dem Format geschuldet. Die Conzepte-Idee, einen relativ kurzen Text zu einem eigentlich auf dieser Strecke kaum zu bewältigenden Kulturgegenstand, in diesem Fall: Simone de Beauvoirs zwar in wenigen Monaten (elf, glaube ich) geschriebenem, aber dennoch enzyklopädisch-monumentalen Buch, zu verfassen, hat mich zum elliptischen, sprunghaften, fragmentarischen Schreiben veranlasst. Ich hätte mich schwer damit getan, ein Argument für / wider / mit Le deuxième sexe stringent zu entwickeln; vor allem wollte ich nicht nur aus lauter Verlegenheit über meine Unkenntnis (ich hatte mich eingehender mit Le deuxième sexe bisher nicht beschäftigt) und meine bei der Lektüre des Buches nicht gerade unwesentliche, gegenderte Positionalität die vielen bekannten Einwände gegen das Buch re-mixen. Ich habe also auf Hinweise auf den Eurozentrismus, die male-centeredness, den kaum versteckten Universalismus und tendenziösen „Humanismus“ von Le deuxième sexe verzichtet.

Außerdem war ich zunächst einmal einfach beeindruckt von dem Text, trotz seiner erheblichen Schwächen, beeindruckt von der souveränen und großzügigen Bereitstellung eines reichen Materials an Quellen, von dem sich Beauvoir auch immer wieder auf das Schönste vom Kurs ihrer Argumentation abbringen lässt, weil sich diese Materialien eben nicht so ohne weiteres in ihr Narrativ fügen. Die darin angedeutete Intertextualität muss heute als Intermedialität weitergedacht werden, bei einem auf verschiedenen medialen Plattformen veröffentlichten Textvorhaben wie Conzepte eigentlich selbstverständlich. Nicht zuletzt deshalb – wenn auch eher stellvertretend – die Erwähnung eines Blogs, einer Tagung, eines Posters, eines Fanzines, eines Fotos in meinem Beitrag.

Dagmar Fink /

Ich hatte in meinem Text ein spezifisches Erkenntnisinteresse. Mir ging und geht es darum nachzuverfolgen, woher eigentlich die Verwerfung von Weiblichkeit in weiten Teilen feministischer Theoriebildung kommt. Meiner Erinnerung nach begann das (zumindest was die Zweite Frauenbewegung und feministische Theorien im Anschluss daran anbelangt) mit Beauvoir. Das ist eine ziemlich weitreichende Frage, die nach Akribie und Genauigkeit im Umgang mit dem Ausgangstext verlangt. Ich habe mich von dieser Frage leiten lassen und erst einmal überhaupt nicht an das Zeitungsformat gedacht. Deshalb war der Text zu Beginn viel zu lang, zu sperrig und zu akademisch für eine Zeitung. Da hieß es dann, mich auf das Argument zu konzentrieren, das mir am wichtigsten ist, und auf alles Erläuternde, Exemplifizierende zu verzichten.

Viele der älteren feministischen Texte las ich während meines Studiums, als Studentin, die auf gar keinen Fall patriarchalen Ideologien aufsitzen wollte und der ,das mit der Weiblichkeit‘ daher auch ein wenig suspekt war. Habe ich diese Texte damals aufgrund meiner skeptischen Haltung so rezipiert, dass sie Weiblichkeit verwerfen? Oder sehe ich das heute immer noch so? Steckt das tatsächlich in den Texten drinnen? Diese Fragen wollte ich im Text wiedergeben, daher auch der Aufbau in Erste Lektüre und Relektüre.

Das Mythos-Kapitel aus Le deuxième sexe hatte ich für ein Seminar im Grazer Masterstudiengang Gender Studies ausgewählt. Die Einleitung ist dabei, weil sie beinahe wie ein Manifest klingt und dort bereits die zentralen Fragen aufgeworfen werden. Das Kapitel über Lesben bzw. ‚die Lesbe‘ habe ich dazugenommen, weil ich annahm, dass Beauvoir dort auch das eine oder andere Wort zu Weiblichkeit verliert. Ich war neugierig, weil sie selbst ihre sexuellen Beziehungen zu Frauen anscheinend kaum thematisierte, auch wenn allgemein bekannt war, dass sie Sartre nicht für seine Kompetenzen als Liebhaber_ [1] schätzte. Selbst in der feministischen Rezeption wird Beauvoir zumeist mit Sartre in Verbindung gebracht und nicht mit ihren Liebhaber/innen oder ihren Lebensgefährt/innen. Und das, obwohl sie zwanzig Jahre lang eine Beziehung mit Sylvie Le Bon führte, die sie schließlich adoptierte (um ihre Hinterlassenschaft zu regeln – das war für lesbische Paare zu der Zeit ja nicht anders möglich). Warum ist diese Beziehung nie oder kaum Thema? Und wie hat Beauvoir selbst in ihrer Arbeit zu ihrer Heterosexualisierung beigetragen?

Die Zitate habe ich so ausgesucht, dass sie für sich stehen können und so etwas wie einen eigenen kleinen Text oder Argumentationsstrang formen. Aus diesem Grund sind sie auch recht kurz und fragmentarisch. Das funktioniert ganz gut, finde ich, schade ist jedoch, dass Beauvoirs wunderbare Sprache so kaum zur Geltung kommt. Umso mehr habe ich mich darüber gefreut, dass Tom ein langes Zitat verwendet, das einen schönen Eindruck von Beauvoirs Schreiben vermittelt.

Nina Hagen in den Text einzuführen war ein großes Vergnügen für mich, weil sie – wie Beauvoir – massiv Kritik an (hetero)normativen Vorstellungen von Weiblichkeit und der Naturalisierung der Frauenrolle übt. Im Unterschied zu Beauvoir kann Nina Hagen sich jedoch auch andere Weiblichkeiten als normative vorstellen und bringt diese in ihren gloriosen Performances auch hervor. Darüber hinaus finde ich, dass feministisches Wissen nie nur in theoretischen Auseinandersetzungen gewonnen wird, sondern u.a. in Populärkulturen – wie Musik, Krimis, Sciencefiction, Fanzines, Blogs. Dabei kann in jedem Bereich je spezifisches Wissen generiert werden und das wieder zusammenzubringen ist etwas, das mich sehr interessiert. Und Populärkulturen können feministisches Wissen natürlich noch einmal ganz anders verbreiten. Da fällt mir z.B. sofort Le Tigre und deren Song Hot Topic ein, der so etwas wie eine aktuelle Momentaufnahme eines queer-feministischen Projekts betreibt. Wenn ich das Lied in einem Seminar spiele, sind alle total neugierig, wer eigentlich die Personen sind, die da besungen werden.

Tom Holert /

Diese Verstreuung feministischen Wissens über unterschiedliche Kulturen und Kontexte erscheint mir besonders wichtig, um zu verstehen, wie sehr es auf die Form(en) ankommt, die ein solches Wissen annehmen kann. Mir ist, auch in der Beauvoir-Lektüre, noch einmal klar geworden, dass in der Heterogenität, der Heterodoxie und dem Reichtum des Vokabulars und Repertoires feministischer Äußerungsweisen auch ein Grund für deren theoretisch-künstlerische Produktivität und Unberechenbarkeit liegt. In vieler Hinsicht ist ja auch Le deuxième sexe eine sehr polyphone, polymorphe Angelegenheit, Beauvoir bewegt sich in verschiedenen Sprachspielen und literarischen Genres, vom Jargon der Existenzialphilosophie über die literarischen Quellen, die sie exzerpiert und paraphrasiert, bis zu den sexualwissenschaftlichen und anthropologischen Texten, mit denen sie arbeitet. Das Buch ist ein zumindest interdisziplinäres, wenn nicht transdisziplinäres Unternehmen, dessen Stil und Emphase nicht zuletzt davon geprägt sind, dass sich die Autorin an ein Thema universeller Tragweite und zugleich autobiografischer Bedeutung herangewagt hat. Zugleich hatte sich Beauvoir die Freiheit und die Lizenz genommen, ihr philosophisches und theoretisches Werk unabhängig von bestehenden Fächerordnungen und Zuständigkeiten zu entwickeln. Die vielen und oft langen Zitate sind zwar zu einem nicht unerheblichen Teil gewissermaßen protofeministisch oder eben auch antifeministisch, sprengen aber in den Gang der Argumentation immer wieder andere Stimmen und kulturelle Markierungen ein. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass sich das Enzyklopädische oder Babylonische dieses Ansatzes in den Listen und Aufzählungen wiederfindet, die wie in Le Tigres Hot Topic (in dessen Lyrics interessanterweise der Name von Beauvoir fehlt) oder in dem Poster von Sabina Baumann das Spektrum feministischer Traditionslinien zu rekonstruieren und darzustellen versuchen.

Conzepte /

Mochtet Ihr Beauvoirs Text?

Tom Holert /

Oh ja, ich mag den Text, weil er fließt und, wie Dagmar so schön schreibt, von großer Klarheit ist. Zudem finden sich so viele Mikrobeobachtungen – die zwar nicht unbedingt in ein nachvollziehbares Großargument gebracht werden, aber für sich, als Miniaturen bestehen. Wie zum Beispiel der Begriff von den „Hausfrauenwerten“, die sich im Gespräch unter Frauen bilden und über die sich eine lustvolle und auch außermaskuline Gemeinschaft formieren kann (S. 560f). Ich finde zudem den diskursiven Ort des Buches hochinteressant, auch und gerade als Beitrag zu den Kulturwissenschaften – als Vorstufe von (feministisch inspirierten) Cultural Studies, ähnlich wie Roland Barthes’ (spätere) Mythologies oder Marie Bonapartes (frühere) psycho-diskursanalytische Studien etwa zur Rolle des Krieges und kriegerischer Mythen im Alltag, von Lévi-Strauss’ Einfluss auf Le deuxième sexe ganz zu schweigen.

Dagmar Fink /

Ich hatte viel Freude an Beauvoirs Text und ihrem Bemühen, eine literarische / poetische und theoretische Sprache zusammenzubringen. Das ist etwas, das ich auch bei anderen Theoretiker/innen, wie beispielsweise Donna Haraway oder Trinh Minh-ha sehr schätze. Eine Sprache, die sich um Figuration bemüht, bereitet mir nicht nur großen Genuss, sie ermöglicht auch ein anderes Verstehen. Eines, das nicht nur an den Verstand rührt, sondern auch an die Sinne und Emotionen. Und es bedingt ein anderes Beschreiben, das vielleicht mehr ein Um-Schreiben, und manchmal auch ein Nahe-An-Etwas-Entlang-Schreiben ist, als ein Fixieren, Definieren. Letzteres trifft allerdings eher auf Haraway und Trinh zu, und nicht so sehr auf Beauvoir.

Mir gefällt sehr, dass Beauvoir lange vor dem Entstehen kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung oder der Cultural Studies, wie Tom ja auch sagt, die Bedeutung von Geschichte und Geschichten, von Mythologien für unsere Vorstellungen und die Hervorbringung von Geschlecht thematisiert. Bei meinen Recherchen zu Le deuxième sexe habe ich gelesen, dass Beauvoir offenbar sehr ‚großzügig‘ mit ihren Quellen umgegangen ist – das hat mich wiederum sehr erheitert, wiewohl es nicht verwunderlich ist, wenn ich überlege, in welch kurzer Zeit sie dieses monumentale Werk verfasst hat.

Conzepte /

Dagmar kritisiert, dass Beauvoir die Schnittstellen von Rassisierung / Klasse / Ethnizität hin zu Weiblichkeit nicht betrachtet und auch Tom merkt an, dass es in dieser Hinsicht Einwände gegen Beauvoirs Buch gibt. Könnt Ihr ein bisschen mehr dazu sagen?

Tom Holert /

Ja, in dieser Hinsicht ist Le deuxième sexe bezeichnend blind. Die kolonialen Dimensionen des von Dagmar benannten Machtverhältnisses der Sexualität spielen in dem Buch kaum eine Rolle. Beauvoirs Engagement für die Dekolonisierung, ausgelöst durch den Algerienkrieg, sollte sich erst in den späten 1950ern zeigen, als sich auch Sartre und das Les Temps Modernes-Umfeld hier eindeutig positionierten. 1962 veröffentlichte Beauvoir gemeinsam mit der Rechtsanwältin Gisèle Hamili ein heute weitgehend vergessenes Buch zum Fall der in Algerien gefolterten Djamila Boupacha, die erstmals in der Geschichte dieses kolonialen Konflikts einen Prozess gegen ihre Peiniger anstrengte. Fehlt 1949 in Le deuxième sexe noch der explizite Bezug auf den französischen Kolonialismus, so wird die Klassenfrage immer wieder zum Thema, besonders in den Abschnitten IV und V im Kapitel zur „Geschichte“, die unter anderem von den Voraussetzungen der Politisierbarkeit bei Bürgerinnen, Bäuerinnen und Arbeiterinnen handeln, aber auch später, wenn es etwa um die ökonomischen und gesellschaftlichen Asymmetrien heterosexueller Paare geht. Doch argumentiert sie hier selten in einem stringenten Sinn marxistisch. Überhaupt lässt sich Beauvoirs Soziologie kaum spezifischen Denkschulen zuordnen. Allerdings ist der franko-amerikanische Raum, in dem sie ihre Szenarien der Geschlechterbeziehung (und der Befreiung aus den ‚schlechten‘ Paarbeziehungen) entfaltet, erschreckend Weiß. Als Abwesenheit, als Verdrängtes sind die kolonialen Dimensionen jedoch wiederum äußerst präsent.

Dagmar Fink /

Wenn es um die Verschränkungen und Wechselwirkungen unterschiedlicher Differenzachsen geht, stellt sich für mich die Frage, wie mit Texten, Filmen, Bildern usw. umgegangen wird, wie sie wahrgenommen und eingeschätzt werden. Es funktioniert gut, finde ich, wenn sich Autor/innen aus unterschiedlichen Perspektiven mit ihnen beschäftigen, wie z.B. mit Jennie Livingstons Dokumentarfilm Paris is Burning. Judith Butler hat darüber geschrieben und sich vorwiegend mit Geschlecht beschäftigt, bell hooks hat darüber geschrieben, Butlers Rezeption kritisiert und Rassisierung in den Blick genommen, Viviane Namaste hat darüber geschrieben, Butlers Rezeption und die Rezeption von Transfrauen kritisiert und so weiter. Mit dem Film haben sich viele aus unterschiedlichen Positionen beschäftigt. Ich kann mir den Film ansehen, die Essays lesen und überlegen, wie sich verschiedene Ansatzpunkte miteinander verschränken lassen. Das ginge mit Le deuxième sexe sicher auch. Im Sinne einer feministischen Erkenntnistheorie, die lange auch eine Diskussion über privilegierte Erkenntnissubjekte oder privilegierte Erkenntnisstandpunkte war, bin ich der Meinung, dass es nicht den einen privilegierten Standpunkt der Erkenntnis gibt, auch nicht in Bezug auf eine konkrete Fragestellung. Man sieht aber von verschiedenen Standpunkten aus durchaus andere Dinge.

Conzepte /

Ihr beide bezieht Beauvoirs Text auf queere, die Geschlechterbinarität dekonstruierende Theoriebildung und Politiken. Mein Eindruck ist, dass Ihr damit Wege aus jener Sackgasse aufzeigt, die dadurch entsteht, dass Beauvoir eigentlich den mit traditionell männlichen Qualitäten ausgestatteten Menschen zum Emanzipationsziel erklärt. Sie bleibt ja – schon in ihren Formulierungen, das eine oder andere, das erste / zweite Geschlecht – in einer binären bzw. hierarchisierenden Logik. Oder wie schätzt Ihr das ein?

Tom Holert /

Es stimmt schon, das Projekt der Emanzipation bzw. der „authentischen Autonomie“ (S. 599) der Frau ist in die binäre Logik eingespannt, jeder Erfolg in dieser Befreiungsanstrengung lässt sich nur in Beziehung zur Autonomie des Mannes bemessen. Die „erotische Gesamtsituation“ (S. 698) von Frau und Mann ist bei Beauvoir durch nichts anderes gekennzeichnet als den von Monique Wittig Jahrzehnte später analysierten „heterosexuellen Vertrag“ oder die von Adrienne Rich so benannte „Zwangsheterosexualität“. Andererseits, und das hat wiederum Judith Butler klar erkannt, steckt in dem „devenir“ von „devenir femme“, das Beauvoir für ihre Kritik des „Mythos der Weiblichkeit“ aufruft, ein Potential der Überwindung eben jenes Vertrags, weil sie die Denaturalisierung und Denormalisierung der Geschlechterbinarität ins Auge fasst. Allerdings geht dies bei Beauvoir tatsächlich, wie Dagmar herausarbeitet, auf Kosten der Option (oder besser: Position) „Weiblichkeit“.

Die Phantasien, die in Le deuxième sexe als legitim oder attraktiv zugelassen werden, scheinen begrenzt zu sein und das Begehren abzuschneiden. Wie Beauvoir zum Beispiel mit der „weiblichen Neigung zur Zurschaustellung“ (S. 792) ins Gericht geht und sie pauschal und grobschlächtig auf „Narzissmus“ reduziert, ist letztlich typisch hochmodernistische Ablehnung des Theatralischen (und damit vermeintlich Sekundären) und widerspricht darin jeder, z.B. campen Feier des großen oder kleinen Auftritts und dessen politischen und ästhetischen Möglichkeiten einer subversiven Resignifizierung von Rollenmustern und ideologischen Anrufungen. Andererseits widerspricht ein Satz wie: „Nicht einmal die Transvestitin kann sich zu einem Mann machen: sie bleibt Transvestitin“ (S. 845) dann wieder – unfreiwillig? – der Narration von der Unmöglichkeit eines Jenseits der binären Ordnung, ist doch die „Transvestitin“ am Ende gar nicht daran interessiert, zum „Mann“ zu werden, und stattdessen weit mehr an einer jener „Gegenöffentlichkeiten“ des Drag, wie sie Michael Warner in seinem tollen Publics and Counterpublics beschreibt.

Dagmar Fink /

Ich würde nicht sagen, dass Beauvoir schon in ihrer Formulierung einer binären Logik verhaftet bleibt. Meiner Meinung nach lässt sich Le deuxième sexe auch erst einmal so lesen, dass es in der okzidentalen Denktradition nur ein Geschlecht gibt – und dessen Abweichung. So wie auch Irigaray in Das Geschlecht, das nicht eins ist. Es gibt keine positive Bestimmung von Weiblichkeit. Das herauszustellen finde ich sehr wichtig. Irigaray geht hier so weit, von einem „Anti-Narzissmus“ zu sprechen, der für Frauen geschaffen worden sei. Im Gegensatz dazu widmet Beauvoir der Narzisstin ein ganzes Kapitel. Sie schreibt, „dass die Umstände die Frau stärker als den Mann dazu ermuntern, sich der eigenen Person zuzuwenden und sich selbst zu lieben“ (S. 782). Nun würde ich zustimmen, dass Frauen dazu angehalten – um nicht zu sagen: genötigt – werden, sich mit ihrer Person, vor allem ihrer äußeren Erscheinung zu beschäftigen. Ich denke jedoch ganz im Gegenteil, dass die Umstände ganz und gar nicht so sind, dass sie weibliche Personen dazu ermuntern, sich selbst zu lieben. Wie auch, wenn Weiblichkeit nur Mangel oder Negation ist? Tatsächlich wiederholen dann beide – Beauvoir ebenso wie Irigaray – wenn auch sehr unterschiedlich eine binäre Ordnung. Das ergibt sich aber noch nicht notwendig aus der Formulierung.

Tom schreibt, dass Beauvoir „eine Denaturalisierung und Denormalisierung der Geschlechterbinarität ins Auge fasst“. Ich finde, das tut sie und das tut sie nicht. Sie schreibt zwar einerseits, dass nicht alle weiblichen Menschen auch Frauen sind, Sätze wie folgender zementieren jedoch andererseits eine Zweigeschlechterordnung und negieren alle anderen geschlechtlichen Existenzweisen, die es auch im Jahr 1949 gab: „Dabei braucht man nur mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, um festzustellen, daß die Menschheit sich in zwei Kategorien von Individuen teilt, deren Kleidung, Gesichter, Körper, Lächeln, Gang, Interessen und Betätigungen sichtlich verschieden sind: vielleicht sind diese Unterschiede oberflächlich, vielleicht sind sie dazu bestimmt zu verschwinden. Sicher ist, daß sie derzeit unübersehbar existieren.“ (S. 11)

Das ist so spannend an Beauvoirs Text, dass er quasi einen Grundstein für die Dekonstruktion des Frauseins gelegt hat und so klug und scharfsinnig den patriarchalen Weiblichkeits-Mythos analysiert, gleichzeitig jedoch völlig daran scheitert, etwas anderes als Mann und Frau zu erkennen. Und das ist so schade an Beauvoir, dass sie keine anderen Weiblichkeiten sehen oder denken kann.

/

Das Gespräch mit Dagmar Fink und Tom Holert über ihre Texte zu Simone de Beauvoirs Buch Le deuxième sexe (1949, deutsche Ausgabe 1951, Neuübersetzung 1992) wurde per Email geführt und redaktionell gekürzt. Die Fragen stellte Sabine Rohlf.

Anmerkungen

1) Der Unterstrich verweist auf Leerstellen innerhalb einer Zweigeschlechterordnung und will Sartres Geschlecht nicht festlegen, sondern offen lassen.

Literatur

Roland Barthes, Mythologies, Paris 1957
Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M 1964 und 2003, erste vollständige deutsche Übersetzung: Mythen des Alltags, Frankfurt/M 2010

Sabina Baumann, Poster, in: Karin Michalski (Hg), FEELING BAD – queer pleasures, art & politics, Berlin 2011, download: http://www.workingonit.de/work...
http://www.karinmichalski.de/

Simone de Beauvoir, Gisèle Hamili, Djamila Boupacha, Paris 1962

Judith Butler, „Sex and Gender in Simone de Beauvoir’s Second Sex“, in: Yale French Studies No 72, 1986, S. 35-49; http://www.jstor.org/pss/29302...

Judith Butler, „Gender is Burning: Questions of Appropriation and Subversion“, in: Bodies That Matter, New York / London 1993, S. 121-140

Donna Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York / London 1991
Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Übersetzung von Dagmar Fink, Carmen Hammer, Helga Kelle, Anne Scheidhauer, Immanuel Stieß und Fred Wolf, Frankfurt/M / New York 1995

bell hooks, „Is Paris Burning?“, in: bell hooks, Black Looks: Race and Representation, Boston 1992, S. 145-156

Le Tigre, „Hot Topic“, 1999; http://www.youtube.com/watch?v...

Viviane Namaste, „,Tragic Misreadings‘: Queer theory’s erasure of transgender subjectivity“, in: Viviane Namaste, Invisible lives: The erasure of transsexual and transgendered people, Chicago 2000, S. 9-23

Adrienne Rich, „Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz“ (1980, deutsche Ausgabe/n: 1983/1989), in: Dagmar Schultz (Hg), Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich, Berlin 1991, S. 138-168

Trinh T. Minh-ha, „Grenzereignis“, in: Secession (Hg), Trinh T. Minh-Ha, Übersetzung von Dagmar Fink, Johanna Schaffer und Katja Wiederspahn (gender et alia), Wien 2001, S. 11-15

Michael Warner, Publics and Counterpublics, New York 2002

Monique Wittig, „Wir werden nicht als Frauen geboren“ (1981), in: IHRSINN. eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift No 27, 2003, S. 8-19