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(K)ein Anschluss
Katherine Klinger, 2012
Im heutigen digitalen Zeitalter kann ich jede Person, die mich interessiert, sofort nachschlagen. Mein Smartphone hat mehr Technologie an Bord als damals die Apollo 11 auf ihrer Mission zum Mond. Ich habe mein i-Pad stets griffbereit neben dem Bett und starte mit Google in den Tag, sobald ich wach bin. Und doch gibt es nichts Kostbareres als ein ganz bestimmtes Buch, das ich besitze. Sein Inhalt ist völlig veraltet und bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen wäre es weggeworfen und eingestampft worden. Es ist so wertlos wie es für mich wertvoll ist: das Wiener Telefonbuch aus dem Jahr 1938. Es enthält eine unendliche Welt und ist als Nachschlagewerk spannender als jede Webseite, die ich kenne.
Den aufgelisteten Informationen wohnt eine Unschuld inne, die Prominente heutzutage nicht mehr gestatten würden. Jeder Name, Bezirk und Beruf, jede Adresse und Telefonnummer ist fein säuberlich vermerkt, als Beweis des gesellschaftlichen Status und auch als Integrationskennzeichen. Zu suchen und zu finden, zu träumen und zu imaginieren ist Sache des Lesers oder der Leserin.
Jedes Mal, wenn ich einen Namen nachschlage, sei er berühmt oder ganz normal, habe ich unterschiedliche Empfindungen: die Aufregung einer Entdeckung; das Wiederaufleben von Geschichte; die Normalität des Alltags; das Nebeneinander von Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem; die Angst vor Abwesenheit. Es sind Namen, die ich in Büchern gelesen, Ideen, die ich in Vorträgen gehört, Musik, der ich in Konzertsälen gelauscht habe – all dies findet sich in den still aufgelisteten Personendaten auf den Seiten dieses einfachen Telefonbuchs wieder. Sie lebten in den Wohnungen Wiens, sie spazierten durch die Straßen, sie sprachen am Telefon: Sie existierten.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat kein Telefon, aber sein einhändiger Bruder, der Pianist Paul, wohnt mit seiner Schwester Hermine in der Argentinierstraße 16, daneben ein interessanter separater Eintrag für die „Wittgenstein’schen Geschwister“. Wenn man zu den reichsten Familien Mitteleuropas gehört, lässt man sich wahrscheinlich nicht aus dem Telefonbuch austragen, sondern gibt an, wie viele Telefonleitungen man sich leistet. Auch als berühmter „Univ. Prof. f. Nervenkrankh.“, wohnhaft und arbeitend in der Berggasse 19, Prof. Dr. Sigmund Freud, muss man seine Telefonnummer angeben (A-18-1-70), für den Fall, dass sich ein neues Geschäft ergibt, sogar nach dem Anschluss (oder gerade deshalb?).
Die Mutter von Kokoschka, Romana, hat ein Telefon, Josef Hoffmann und Karl Böhm ebenso. Letztere zwei behalten ihre Telefonleitungen und übernehmen wahrscheinlich einige Monate später auch noch weitere; anders als Leopold Lipschütz, Teilhaber der „Neuen Kronen Zeitung“ oder Eduard Steiner, Besitzer des Riesenrads im Prater. Und es bedarf nur wenig kreativer Denkleistung, um die Schicksale all der Mahlers, Herzls und Kafkas zu ermessen, die ebenfalls hier aufgelistet sind. Was für ein Jahr. Die Kohns, alle 294, müssen freundlicherweise sehr leicht zu finden gewesen sein; nicht ohne Ironie bemerke ich, dass dies einer der verbreitetsten Nachnamen im gesamten Wiener Telefonbuch von 1938 ist. Bis zum Ende des Jahres hat jeder Kohn auch den gleichen Vornamen. Sie sind, wie 30 Prozent der anderen Gelisteten, nach weniger als drei Jahren nicht mehr in der Lage, ihre Telefonrechnung zu bezahlen. Dabei geht es nicht um Geld: Sie existieren nicht mehr.
Und unter den prominenten Intellektuellen, die auf diesen Seiten wohnen und diese Telefonleitungen nutzen, finden sich auch der Name und die Telefonnummer meiner Großeltern. Es ist so einfach und doch so harte Realität, es schockiert mich jedes Mal aufs Neue. Es ist der einzige Beweis, den ich für ihre normale, alltägliche Existenz in der Welt habe. Ihr Leben wird durch eine Telefonnummer verkörpert. Ich weigere mich, hier die Nummer ihres Transports als Beweis anzugeben. So wird ein Telefonbuch zum Lebensbeweis und auch zum Friedhof, wo sich ein Name und eine Adresse in einen Grabstein verwandeln.
Dr. Berta Aichinger, die Mutter von Ilse Aichinger, scheint zweimal auf, obwohl es ihr 1938 verboten gewesen wäre, als Ärztin zu ordinieren. Beim Blättern der Seiten des Telefonbuchs gesellen sich die Aichingers aufgrund der geografischen Ereignisse zu meiner eigenen Familie: Es gibt bestimmt keinen Namen auf diesen Seiten, der in den folgenden Jahren nicht Ängste durchsteht oder leiden muss, wo auch immer er steht und welche Gene er auch besitzen mag. Die kafkaeske Welt, die uns Aichinger in ihrem einzigen veröffentlichten Roman vor Augen führt, ist untrennbar Teil des surrealen Meisterwerks, dieses Vorkriegs-Telefonverzeichnisses.
Das Aufdröseln der Namen aus dem Telefonbuch zehrt an Energie, Emotion und Verstand. Deutsche Juden sparten sich die nötige Zeit und Überlegung und veröffentlichten 1931 bereitwillig ein spezielles Verzeichnis, mehr als 300 Seiten stark (und ähnlich schwer wie das Wiener Telefonbuch), mit dem Titel: „Jüdisches Adreßbuch für Groß-Berlin“ (zweite Ausgabe). Die Berliner Juden listen darin penibel die Namen und Adressen jedes registrierten Mitglieds der Jüdischen Gemeinde auf, skizzieren sorgfältig sowohl wichtige Persönlichkeiten als auch Geschäftsinhaber/innen und ganz normale Staatsbürger/innen.
Wie das Vorwort anmerkt, haben die aktuellen Wahlen gezeigt, dass sechs Millionen (!) Deutsche für die Jüdische Gemeinde eine noch nie dagewesene Herausforderung darstellen könnten. So gewissenhaft wie der gute Einstein, Albert, Professor (W30, Haberlandstr. 5) und der sanftmütige Dr. Baeck, Leo (Telefon: Barbarossa 6664) ihre Daten für die zweite Ausgabe vervollständigt haben, nachdem die erste so ein Erfolg war, wie können wir da anders als lächeln, bevor wir angesichts der Informationen verzweifeln, die die Gemeinde zusammengetragen hat?
Das lange Vorwort erklärt es genau: „Aber wie wir gute Juden sind, sind wir auch ebenso gute Deutsche […]. Wir Juden leben nicht nur in Deutschland, wir sind Deutsche, weil es unsere Vorfahren waren, sind auf deutscher Erde geboren und wurzeln mit unserer ganzen Kraft, unserem ganzen Gefühle im deutschen Volkskörper.“ [1]
Manchmal frage ich mich, was mehr schockiert: die Veröffentlichung eines Jüdischen Adressbuchs in Berlin in den frühen 1930er-Jahren oder die stillen, aber ähnlich vertrauensvollen Namen im Wiener Telefonbuch von 1938. Vielleicht erklären sich beide gegenseitig und werfen ein Licht darauf, wie geschehen konnte, was geschah. Gleichermaßen unmöglich machen sie es zu begreifen.
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Katherine Klinger ist eine Querdenkerin und lebt in London, ihrem Geburtsort.
Redaktion: Jo Schmeiser & Sabine Rohlf
Übersetzung aus dem Englischen: Hannah Fröhlich, Nicholas Grindell
Dieser Text erschien am 10. November 2012 in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“.
Notes
1) Im Original Deutsch. (Anmerkung der Redaktion) |
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