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Die größere Hoffnung
Ilse Aichinger, 1948
„Wie heißt du?“ schrie der Oberst. „Wo wohnst du?“
„Man muß sich suchen gehen,“ flüsterte der Schreiber.
„Wo bist du zu Hause?“ sagte ein dicker Polizist und beugte sich zu ihr herab.
„Wo ich gewohnt habe,“ sagte Ellen, „war ich noch nie zu Hause.“
„Wo bist du dann zu Hause?“ wiederholte der Polizist.
„Wo Sie zu Hause sind,“ sagte Ellen.
„Aber wo sind wir zu Hause?“ schrie der Oberst außer sich.
„Sie fragen jetzt richtig.“
Wer den Nachweis nicht bringen kann, ist verloren, wer den Nachweis nicht bringen kann, ist ausgeliefert. Wohin sollen wir gehen? Wer gibt uns den großen Nachweis? Wer hilft uns zu uns selbst?
Unsere Großeltern haben versagt: Unsere Großeltern bürgen nicht für uns. Unsere Großeltern sind uns zur Schuld geworden. Schuld ist, daß wir da sind, Schuld ist, daß wir wachsen von Nacht zu Nacht.
Seit den Kindern die öffentlichen Gärten verboten waren, besonders seit dem Abenteuer am Kai, hatten sie ihren Spielplatz auf den letzten Friedhof verlegt. Sie hatten fast nur noch Verstecken gespielt, eins, zwei, drei – abgepaßt, aber es war immer schwerer gewesen, sich wieder zu finden, sich selbst und die übrigen. [1]
Dieser letzte Friedhof war tief von verzweifelten Geheimnissen, von Verwunschenheiten, und seine Gräber waren verwildert. Es gab da kleine steinerne Häuser mit fremden Buchstaben darauf und Bänken, um zu trauern, aber es hatte auch Schmetterlinge und Jasmin gegeben, solange es Sommer war, und ein Unmaß von Verschwiegenem und wachsenden Sträuchern über jedem Grab. Es tat weh, hier zu spielen, und jeder schnelle, übermütige Schrei verwandelte sich sofort in abgründige Sehnsucht.
So kann es nur ein Land sein: Wo die Toten lebendig werden.
So kann es nur ein Land sein: Wo die Zugvögel und die zerrissenen Wolken nachgewiesen sind, so kann es nur ein Land sein.
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Die größere Hoffnung von Ilse Aichinger erschien erstmals 1948 im Bermann-Fischer Verlag NV, Amsterdam. Alle Rechte vorbehalten durch S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Hier zitiert wird (mit einer Ausnahme) die Ausgabe von 2000. Die Leerzeilen zwischen den gewählten Passagen markieren größere Auslassungen. Zitate: S. 183, S. 46, S. 50f, S. 53.
Anmerkungen
1) Diese Passage, die Katherine Klinger der englischen Übersetzung Herod’s Children von 1963 entnommen hat, findet sich auf Deutsch nur mehr in der Ausgabe von 1948. Ilse Aichinger hat ihren Roman in den 1960er-Jahren überarbeitet und die Stelle offenbar gestrichen. (Anmerkung der Redaktion) |
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