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Kein Besuch in Deutschland
Impressionen einer diaspora-touristischen Verweigerung

Nicola Lauré al-Samarai, 2011

Es gibt Menschen mit eigentümlichen Freizeitbeschäftigungen. Mein arabisch-kanadischer Cousin, beispielsweise, sammelt touristische Berlin-Handbücher. Inspiriert dazu wurde er von seinem ersten und einzigen Besuch in unserer schönen Hauptstadt, den er zehn Jahre nach dem Mauerfall unternahm, um seine arabisch-ostdeutsche Verwandtschaft – namentlich mich – zu beehren. Als geschichtskritischer diasporischer Jurist kam er nicht unvorbereitet, sondern hatte neben einer tiefen Feindseligkeit gegenüber jeglichen Errungenschaften der deutschen Leitkultur auch einen travel guide im Gepäck. Der darin kolportierte Ratschlag, mit Deutschen nach Möglichkeit nicht über historisch verfängliche Themen zu reden, weil dies emotionale Reaktionen hervorrufen könne, veranlasste einen fürsorglichen jüdischen Kanzleikollegen, meinen Cousin auf die deutsche Übersetzung solcherart Spezialliteratur hinzuweisen und ihm mit seinem „Reisefjuhrer“ Glück zu wünschen.

Selbiges erwies sich als nötig. Binnen kürzester Zeit offenbarten sich bei meinem Gast nämlich Symptome einer rasant schwindenden außenweltlichen Kontaktbereitschaft. Mein Nachwende-Heimatkiez – ein als ,sozialer Brennpunkt‘ verfemter Straßenzug des Westberliner Bezirks Wedding – war dank seiner grundsoliden parallelgesellschaftlichen Potenziale davon ausgenommen. Jenseits der Viertelgrenze aber herrschte deutscher Glotzalltag, und mein Cousin, der wie jeder wohlerzogene Mensch nicht daran gewöhnt war, permanent angestarrt zu werden, reagierte darauf mit Verspannung. Die lautlos übermittelte Botschaft, unsereins mangele es ,sichtbar‘ ergo ,amtlich‘ an einer Hierseinsberechtigung, verstand er allerdings auf Anhieb. Daher ersparte ich ihm epische Erläuterungen zu den historischen Bedingtheiten dieses blondblauäugigen Rassismuskontinuums und machte ihn stattdessen mit den Grundregeln für den Augenblitzkrieg vertraut: 1. Sei offensiv! 2. Starre dein Gegenüber direkt an, bis es den Blick senkt! 3. Starre weiter!

Während mein Cousin seine neue operativ-taktische Fertigkeit zur Bekräftigung territorialer Ansprüche beherzt im öffentlichen Nahverkehr erprobte, widmete ich mich der Umsetzung seines extravaganten Wunsches, den Osten auf der Basis geografisch überprüfbarer Erfahrungen kennen zu lernen. Ich scheiterte bereits an der Vermittlung von Basiswissen. Die Grundzüge einer sozialistischen Gesellschaftsordnung ließen sich nicht einfach so erklären, und ihre Hinterlassenschaften glichen eklektischen Botschaften, die ebenfalls nicht zur Erleuchtung beitrugen. Das letzte zusammenhängende Stück Mauer ankerte, wie ein anachronistisches Wrack, verlassen in der Landschaft. Am Potsdamer Platz ließen sich allenfalls die Werdungen architektonischen Größenwahns bestaunen, nicht aber die Endgültigkeiten einer Grenze greifen, die dieses riesige Areal einst umschlossen und nur wenige hundert Meter entfernt von meiner Wohnung gelegen hatte. Orte, an denen früher unbemerkt globalisierter Alltag gelebt wurde, waren zu ramponierter Unkenntlichkeit verkommen, und sie befanden sich in Gegenden, wo unsereins bei der Besichtigung besser im Auto blieb.

Die Unmöglichkeit, etwas zu bereisen, das sich innerhalb einer Dekade quasi entstofflicht hatte, führte bei mir zu beträchtlichen existenzphilosophischen Beklemmungen. Mein Cousin rief mir aufmunternd ins Gedächtnis, ich sei nicht die einzige bindestrichdeutsche Person, die auf einem Haufen unbeglaubigter Erinnerungen säße, doch das bestätigte nur mein Gefühl, beängstigend unwirklich zu sein. Ich kam mir vor wie die Bewohnerin einer tosenden Geisterstadt, in der regelmäßig alles historisch nicht Niet- und Nagelfeste in die Tiefen gigantischer Baugruben gestürzt wurde, um es mit nihilistischer Gründlichkeit zu zermahlen, zuzubetonieren und unter Tonnen von Erde zu begraben. Kein Wunder, dass sich bei derartiger Gestaltungswut der jüdische Autor Heinz Knobloch zu seinem Imperativ „Misstraut den Grünanlagen!“ genötigt sah.

Mein Cousin kommentierte dieses serielle Muster geschäftigen epochalen Platzschaffens weniger originell (was an der gedanklich kaum Entfaltungsmöglichkeiten bietenden Verbindung von ,Deutschen‘ und ,Raum‘ lag), wollte selbigem aber diskursiv auf den Zahn fühlen und nahm sich als Erstes seinen „Reisefjuhrer“ vor. Die Historie des darin beschriebenen Ortes, der es, den Widrigkeiten der Jahrhunderte trotzend, zum Epizentrum einer modernen Nation gebracht hatte, präsentierte sich herrlich transparent und bar jeden unerfreulichen Querulantentums. Jüdische Geschichte blieb festgezurrt in der Aufklärung und im Nationalsozialismus; die Geschichte von Sinti und Roma, Schwarzen Deutschen oder Migrant/innen tauchte gar nicht erst auf; und das waren, angesichts unserer kulanten Suchkriterien, nur die Offensichtlichkeiten. Bei allem Verständnis für marktorientierte Prämissen touristischer Wegweiser zeitigte dies bei meinem Cousin die folgerichtige Frage, wer hier eigentlich wen zu Besuch erwarte.

Seitdem sammelt er Berlin-Handbücher. Die anthropologische Faszination für dieses auf makellose Außenwirkung zielende Medium nationaler Selbstdarstellung ließ seine praktischen Reiseambitionen zwar endgültig gegen Null konvergieren, beflügelte ihn jedoch zur Formulierung einer Modell-Theorie, der zufolge die deutsche Reiseführer-Historiographie auf den ideologischen Prinzipien von Star Trek basiere. Besonders aufschlussreich sei – so explizierte er kürzlich mit der präzisen Logik eines Vulkaniers – der schöpferische Gebrauch der als ,Oberste Direktive‘ bekannten Form einer intergalaktischen teilnehmenden Beobachtung unter Wahrung strikter Unbeteiligtheit. Dabei müsse man allerdings eines beachten: Die Übertragung derselben auf hiesige Gegebenheiten setze die Erarbeitung eines ständig neu harmonisierten historischen Verflachungskonsenses voraus, was zwangsläufig diverse artikulatorische Zeitverzögerungen nach sich ziehe. Nehme man, exemplarisch, die Normalisierungsmanie der Berliner Republik, so könne sich deren Die-Deutschen-sind-ein-Volk-wie-jedes-andere-auch-Mantra erst als rührselig-brutales Allgemeingut entfalten, wenn zuvor eine gründliche Kontroversensäuberung stattgefunden hätte. Er sei deshalb bereits gespannt, wie wohl die aktuelle Integrationsdebatte in dieses Phantasieuniversum reiseführerischer Geschichtsklitterungen Eingang fände, aber dank des in Deutschland vorhandenen profunden Erfahrungsschatzes für historische Bewältigungen dürfe man mit einer effizienten Problemlösung rechnen. Immerhin konnte ich seine Frage beantworten, ob es für das Gewaltpotenzial hiesiger Entinnerungspolitiken ein Wort gäbe. Seitdem übt er den Zungenbrecher „Schlussstrich“.

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Nicola Lauré al-Samarai ist Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als freie Autorin in Berlin.

Redaktion: Jo Schmeiser, Vlatka Frketić

Der Text erschien am 15. September 2011 in der deutschen Wochenzeitung „der Freitag“.