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Besuch in Deutschland
Hannah Arendt, 1950

Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert; sie spiegelt sich in der Apathie wieder, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder vielmehr nicht reagieren. Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden.

Diese Gleichgültigkeit und die Irritation, die sich einstellt, wenn man dieses Verhalten kritisiert, kann an Personen mit unterschiedlicher Bildung überprüft werden. Das einfachste Experiment besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich daß man Jude sei. Hierauf folgt in der Regel eine kurze Verlegenheitspause; und danach kommt keine persönliche Frage, […] sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten […]; und wenn die Versuchsperson dieses kleinen Experiments zufällig gebildet und intelligent ist, dann geht sie dazu über, die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen, womit sie stillschweigend zu verstehen gibt, daß die Leidensbilanz ausgeglichen sei und daß man nun zu einem ergiebigeren Thema überwechseln könne. Ein ähnliches Ausweichmanöver kennzeichnet die Standardreaktion auf die Ruinen. […] Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben. Eine solche Flucht vor der Wirklichkeit ist natürlich auch eine Flucht vor der Verantwortung.

Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen als handele es sich um bloße Meinungen. […] Auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentleman’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Meinungen nun wirklich nicht ankommt. Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden (man schleppt ja normalerweise nicht immer Nachschlagewerke mit sich herum), sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, […] dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes.

Es gibt ein fast instinktives Bedürfnis, bei den Gedanken und Vorstellungen Zuflucht zu suchen, die man hatte, bevor irgend etwas Kompromittierendes geschehen war. […] Die intellektuelle Atmosphäre ist von vagen Gemeinplätzen durchdrungen, von Anschauungen, die sich lange vor den jetzigen Ereignissen, zu denen sie nun passen sollen, herausgebildet hatten; man fühlt sich erdrückt von einer um sich greifenden öffentlichen Dummheit, der man kein korrektes Urteil in den elementarsten Dingen zutrauen kann.

Die Schnelligkeit, mit der in Deutschland […] wieder der Alltag einkehrte und überall mit dem Wiederaufbau begonnen wurde, war Gesprächsstoff in ganz Europa. […] Es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß die Deutschen seit Generationen ins Arbeiten vernarrt sind. […] Unter der Oberfläche hat die Einstellung der Deutschen zur Arbeit einen tiefen Wandel erfahren […], hat einem blinden Zwang Platz gemacht, dauernd beschäftigt zu sein, einem gierigen Verlangen, den ganzen Tag pausenlos an etwas zu hantieren. Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist. Und man möchte aufschreien: Aber das ist doch alles nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die Ihr vergessen habt.

Die Realität der Zerstörung, die jeden Deutschen umgibt, löst sich in einem grüblerischen, aber kaum tief verwurzelten Selbstmitleid auf, das jedoch rasch verfliegt […]. In Deutschland wird die verstiegene Hoffnung geäußert, das Land werde das „modernste“ Europas; doch dies ist bloßes Gerede, und kaum hat jemand von dieser Hoffnung gesprochen, dann versteift er sich kurz später im Gespräch darauf, daß der nächste Krieg in allen anderen europäischen Städten dasselbe anrichten werde wie der vergangene in deutschen Städten […]. Jener Unterton von Genugtuung, den man oftmals in den Gesprächen der Deutschen über den nächsten Krieg heraushören kann, […] stellt nur einen weiteren Kunstgriff dar, um vor der Wirklichkeit zu fliehen: angesichts einer unterschiedslosen und endgültigen Zerstörung würde nämlich die deutsche Situation ihre Brisanz verlieren.

Die einzig denkbare Alternative zum Entnazifizierungsprogramm wäre eine Revolution gewesen […]. Doch zur Revolution kam es nicht, aber nicht etwa deshalb, weil sie nur schwer unter den Augen von vier Armeen hätte organisiert werden können. Es lag wahrscheinlich allein daran, daß kein einziger deutscher oder alliierter Soldat nötig gewesen wäre, um die wirklich Schuldigen vor dem Zorn der Leute zu schützen. Diesen Zorn gibt es nämlich heute gar nicht, und offensichtlich war er auch nie vorhanden.

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„Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes“ erschien in: Marie Luise Knott (Hg), Zur Zeit. Politische Essays, © Rotbuch Verlag, Hamburg 1999 (1986). Übersetzung: Eike Geisel. Zitate auf Seite 44f, 47, 49f, 50f, 46f und 59f. Hannah Arendt schrieb den Text nach ihrer Deutschlandreise 1949/50 im Auftrag der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction. Das englische Original „The Aftermath of Nazi Rule. Report from Germany“ erschien 1950 in der Zeitschrift „Commentary“:
http://www.commentarymagazine....