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Betrachtungen zu einer Performance der dritten Art
Anna Kowalska, 2012

Ein kleines Kärtchen im Visitkartenformat wird überreicht. Wortlos. Es ist die Konsequenz einer rassistischen oder sexistischen Handlung oder Äußerung. Adrian Piper begründet ihre Entscheidung, zu dieser Form der Kommunikation zu greifen, auf vielerlei Arten. Dabei steht ihre Identität als Afroamerikanerin, die von ihrer Umwelt als Weiße identifiziert wird, im Vordergrund. Die Identität einer Frau, die als (hellhäutige) Schwarze das Leben einer Weißen führen kann („passing for white“) wurde in der US-amerikanischen Literatur bereits oft beschrieben. Doch wird in der Literatur auch deutlich, dass – zumindest solange eine Spaltung der Gesellschaft in Weiß und Schwarz existiert – es keine solche Identität geben kann, sondern nur ein Pendeln zwischen diesen zwei Identitäten.

Adrian Piper wird allgemein als eine Künstlerin rezipiert, die ihre Arbeit sehr stark auf der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität aufbaut. In ihrer Performancekunst bewegt sich Piper schon früh zwischen mehreren Identitäten. Als Philosophin und Künstlerin ebenfalls. In dem Arbeitszyklus „The Mythic Being“ beispielsweise nimmt sie eine männliche Identität an. Sie geht „in drag“, als Mann gekleidet, auf die Straße und rezitiert dabei wiederholt eine auswendig gelernte Passage aus ihrem Tagebuch. Dabei möchte sie, wie sie in einem Interview sagt, herausfinden, wie die Gesellschaft auf ein Wesen mit genau ihrer Geschichte, aber einer völlig anderen äußeren Erscheinung reagieren würde.

Die circa 15 Jahre später entworfenen „Calling Cards“ sind als Guerillaperformance für den privaten Gebrauch gedacht: Die erste Karte sollte auf Cocktailpartys und Empfängen verteilt werden, die zweite z.B. in Diskotheken. [1] So sehr Piper mit ihrer Karte mehr erreichen möchte, als mit einem direkten Hinweis auf rassistisches bzw. sexistisches Verhalten ihres Gegenübers möglich ist („was sofort jede Party ruiniert“), so sehr scheitert sie, wie sie selbst berichtet, auch mit dieser Form der Kommunikation. Sie möchte ihre Botschaft auf eine diskrete Art mitteilen, um nicht die allgemeine Stimmung zu zerstören und ihr Anliegen der Allgemeinheit aufzuzwingen. Die Betroffenen werden nun zwar nicht öffentlich bloßgestellt, gehen ihr aber aus dem Weg und suchen keinesfalls das Gespräch mit ihr.

Adrian Piper hat zwei öffentliche Diskussionen mit unterschiedlich zusammengesetztem Publikum veranstaltet, die Gelegenheit boten, zu ihrer Performance Stellung zu beziehen. Aus diesem Material entstand das Video „My Calling (Card) #1. Meta-Performance“. [2] Wer dieses Video ansieht, nimmt an einer dritten Performance teil.

Die „Calling Cards“ wurden nicht nur persönlich von der Künstlerin verteilt, sie legte sie auch zur freien Entnahme aus, um, wie sie sagt, andere am Kampf gegen Rassismus zu beteiligen. Wer konnte von diesen Karten Gebrauch machen? Eine schwarze Person würde sich mit dem Inhalt der ersten Karte ebenso wie mit dem Anlass, sie zu verteilen, schwertun. Sie könnte wohl kaum behaupten, unerkannt einer rassistischen Äußerung beigewohnt zu haben. Dennoch sagt eine Frau im mehrheitlich schwarzen Publikum des Studio Museums in Harlem, dass sie gerade als Schwarze eine solche Karte braucht, denn auch in ihrer Gegenwart fallen oft genug rassistische Bemerkungen, die angeblich nicht direkt gegen sie gerichtet seien. Aber schon die Tatsache, dass sie extra auf diese Möglichkeit hinweisen muss, ebenso wie die darauffolgende Belustigung im Publikum zeigen, dass ihre Idee bereits eine kreative Übernahme eines ursprünglich anders gedachten Konzepts ist.

Ich befasse mich hier mit der Idee, dass „My Calling (Card) #1“ vorwiegend von Menschen, die sich selbst als weiß identifizieren bzw. von anderen als weiß identifiziert werden, benutzt werden soll und kann. Ja, die Karte selbst ist bereits ein Aufruf dazu, die eigene WEISSE Identität zu hinterfragen. [3] Nun hat es bereits in der US-amerikanischen Antirassismusbewegung Tradition, als weiße Person zu behaupten, schwarz zu sein. Die Idee von „Abolishing Whiteness“ wurde in den USA von der Chicago Surrealist Group in den 1960er-Jahren ausgerufen. Weißsein könnte demnach abgeschafft werden, wenn ALLE sich zu Schwarzen erklären würden. Sobald also jede/r „schwarz“ wird, wird niemand mehr als solche/r stigmatisiert. Diese Idee ist gewiss sehr „amerikanisch“. Das Hinterfragen der eigenen Identität im Hinblick auf schwarze Vorfahren hat in Amerika eine lange Geschichte. Sie basiert auf der sogenannten „one drop rule“, der Vorstellung, dass schon die entfernteste Verwandtschaft zu einer schwarzen Person das „weiße“ Blut „schwärzt“. [4]

Ich bin weiß. Ich bin schwarz. Es geht nicht darum, diese zwei Aussagen zu nivellieren, das ist nicht das Ziel des Experiments. Es geht darum, eine andere Identität anzunehmen um herauszufinden, wie die Gesellschaft reagiert. Adrian Piper tut genau das. Denn in ihrer Arbeit outet sie sich zwar als schwarz, tut es aber von einer weißen Position aus. Zumindest für die Außenstehenden. Aus einer solidarischen Position, die es nicht ertragen kann, dass Rassismus immer noch so allgegenwärtig und gesellschaftsfähig ist. Sie spricht zwar davon, dass sie in ihrer Betroffenheit und Involviertheit einfach eine Form finden musste, sich in solchen Situationen zu äußern, dies sind aber ihre inneren Beweggründe. Für eine/n Außenstehende/n ist sie eine Weiße, die ihr Gegenüber plötzlich mit ihrer „Geheimidentität“ konfrontiert. Ihre äußere Erscheinung bleibt gleich, sie selbst bekommt aber eine andere Geschichte.

Lösen denn künstlerische Arbeiten, die das Publikum mit einer (in vielerlei Hinsicht) exotischen Identität der Künstlerin konfrontieren, nicht oft ein Gefühl der Erleichterung bei den Rezipient/innen aus – Erleichterung darüber, dass das Ganze doch nicht so viel mit ihnen selbst zu tun hat?

Wird nicht auch deshalb so gerne nach der Identität der Künstlerin / des Künstlers gesucht und geforscht, um eine Erklärung für ihr / sein Tun zu finden und es gleichzeitig einordnen zu können, sodass die allgemeine Ordnung nicht erschüttert wird? Ist nicht deswegen das Interesse an der individuellen „Geschichte“ so groß, weil es auf diese Weise gelingt, die entsprechende Position zu partikularisieren und zu isolieren?

Édouard Glissant, der frankophone Schriftsteller und Denker der Kreolisierung, forderte in seinen Schriften „das Recht auf Opazität“. „Für mich ist es nicht mehr notwendig“, schrieb er, „den anderen ,zu verstehen‘, das heißt, ihn auf das Modell der eigenen Transparenz zu reduzieren, um mit diesem Anderen zusammenzuleben oder etwas mit ihm aufzubauen.“ [5]

Adrian Piper sagt am Ende ihres Interviews in dem Video „The Mythic Being“, [6] eine Künstlerin sei ebenso ein Produkt der Gesellschaft wie alle anderen. In der 1988 im Studio Museum aufgezeichneten Diskussion meint sie auch, es sei nicht möglich, in das Herz von anderen hineinzusehen. Man könne nur durch Verhalten kommunizieren. Diesen behavioristischen [7] Ansatz könnten wir auch auf die Künstlerin selbst anwenden und nur das betrachten, was sie tut und wie sie es tut. Sie selbst wäre dann eine Blackbox, deren Identität und deren innere Beweggründe uns unbekannt bleiben.

Piper sagt also, man könne nur durch Verhalten kommunizieren. Man würde Rassismus nicht einfach durch Nett-zueinander-Sein abschaffen, aber es sei ein guter Start. („You can’t get rid of racism by being nice to eachother. But it’s a good start.“) Wichtig für sie ist es dabei, im Hier und Jetzt zu sein, eine Form von Aufmerksamkeit also, die neue Erkenntnisse durch Erfahrung zulässt. Vielleicht könnte „being nice“ auch als „aufmerksam sein“ übersetzt werden, aufmerksam füreinander, aber auch für sich selbst.

Aufmerksam vielleicht auch für die vielen Widersprüche und Gegensätze, die sich bei der Beschäftigung mit Pipers Arbeit zeigen. Eine interessante Auseinandersetzung neueren Datums findet sich auf der Website „Black Visual Archive“. [8] Meg Onli befasst sich hier [9] mit Adrian Pipers Text „Passing for White, Passing for Black“. Piper schildert in ihrem Text die komplexe Problematik des „Passing“ und weist diese Option für sich zurück, ohne sich gleichzeitig in der schwarzen Community eindeutig zuzuordnen. Anhand literarischer Beispiele und ihrer eigenen Geschichte beschreibt sie die Schwierigkeit, sich der Dynamik der rassistischen Zuordnung zu entziehen. Jener Dynamik, die nur ein stilles Überlaufen in das weiße Lager oder aber eine der Norm entsprechende Existenz im vordefinierten Rahmen als Schwarze zulässt.

Meg Onli findet in der Arbeit von Adrian Piper den Gegenentwurf eines Subjekts, der zwischen den einander entfremdeten Communities vermittelt, anstatt sich in seiner Alienation einzuschließen.

Auf eine Interview-Frage, wie sie denn ihre verschiedenen „Identitäten“ als Künstlerin, Philosophin und Yogini auf einen Nenner bringe, antwortet Piper, dass sie in ihrer Person all diese Elemente vereint, dass sie gleichberechtigter Ausdruck ihrer Persönlichkeit sind: „There are no discrete selves to separate or integrate. My variety of professional activities are all different, equally essential expressions of one self.“ [10] Diese Antwort könnte auch als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass ein Dasein in der Vielfalt der Identitäten und nicht nur ein Pendeln dazwischen möglich ist.

Die „Identitätsspaltung“ gibt die Künstlerin an das Publikum weiter: Es soll und kann darüber nachdenken, ob es sich als weiß oder schwarz identifiziert und warum, und dabei herausfinden, wie weit es Rassismus bereits verinnerlicht hat. Nicht Pipers Identität ist „gespalten“ oder unklar, sondern die Vorstellungen und Ideen, mit denen sie sich konfrontieren muss, sind es.

Die Aufforderung der Mehrheitsgesellschaft an „Minderheiten“, sich doch am Identitätsdiskurs zu beteiligen, kann zu einer subtilen Form rassistischer Gewalt werden. Die vermeintlich „Anderen“ werden in endloser „Beschäftigungstherapie“ fixiert und von der gesellschaftlichen Mitte ferngehalten. Trotz der politischen Wichtigkeit von Identitätsdiskursen für die jeweiligen Gruppen ist es bitter, dass sie in der Folge erneut eine exkludierende Dynamik entwickeln.

Adrian Piper beschäftigt stattdessen ihr Publikum. Sie hat ihre „Calling Cards“ aus dem Schmerz entwickelt, der aus wiederholter Erfahrung von rassistischer – meist verbaler – Gewalt stammt. Dieser Schmerz hat es ihr unmöglich gemacht, ihre Umgebung immer wieder zwanglos und fröhlich auf ihren Rassismus hinzuweisen. Piper sagt mehrmals, dass nicht nur die Gewalterfahrung selbst, sondern auch die Abwehr gegen sie schmerzhaft ist.

Kann eine Situation rassistischer Gewalt mittels einer „Calling Card“ produktiv aufgelöst werden? Wohl kaum. Genau hier endet die Macht der Karte. Und das ist auch die Enttäuschung, die der Künstlerin widerfährt: die Karte dient nicht als Katalysator für die Kommunikation, sondern bricht sie ab.

Eine spätere Arbeit von Adrian Piper setzt die Methode der persönlichen Konfrontation mit anderen Mitteln fort. Diesmal ist es eine Video-Installation mit dem Titel „Cornered“, [11] entstanden wenige Jahre nach „My Calling (Card) #1 and #2“. Die Künstlerin ist hier auf einem Bildschirm zu sehen, der in einer Ecke platziert und hinter einem gekippten Tisch verbarrikadiert ist. Sie beginnt von ihrer eigenen Identität zu sprechen: „Ich bin schwarz.“ Doch betrifft ihr Sprechen ebenso die Betrachterin. Diese wird gezwungen, sich mit ihrer Selbstidentifikation als Schwarze oder Weiße auseinanderzusetzen. Die Künstlerin muss nicht mehr dabei anwesend sein, wenn sich die Zuseherin der Frage nach ihrer eigenen Identität emotional und intellektuell stellt. Sie hat es geschafft, etwas von ihrer Auseinandersetzung und von ihrem Kampf so weiterzugeben, dass es – dem Prinzip der Entropie entsprechend – keinen Weg zurück in den Ausgangszustand der Unwissenheit gibt.

/

Anna Kowalska lebt in Paris und arbeitet als Autorin. Sie ist Übersetzerin des Buches „Körper in Aufruhr“ (2011) von Artur Żmijewski.

Redaktion: Sabine Rohlf, Jo Schmeiser

Anmerkungen

1) In diesem Text thematisiere ich nur „My Calling (Card) #1“, weil auch im hier untersuchten Material nur von diesem Teil der Arbeit gesprochen wird.

2) „My Calling (Card) #1. Meta-Performance“ (1987-1988, 00:58:00)

3) In fast allen Texten, auf die hier Bezug genommen wird, auch den neuesten, findet sich der Begriff „race“ wieder. Daher erscheint es mir wichtig festzuhalten, dass die Existenz unterschiedlicher „Rassen“ beim Menschen (erst!) in den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich widerlegt wurde – diese Erkenntnis verdankt sich der genetischen Forschung. Die genetischen Unterschiede zwischen einzelnen Individuen – jeglicher Herkunft – sind größer als die zwischen den Angehörigen vermeintlich unterschiedlicher „Rassen“. Dass diese Tatsache noch immer einen Neuheitswert besitzt, zeigt u.a. folgender Guardian-Beitrag: Deborah Orr, „The myth of ,race‘ was invented by racism, and racism keeps it growing“, in: The Guardian, 17.2.2012, http://www.guardian.co.uk/comm...

4) Adrian Piper, „Passing for White, Passing for Black“, in: Sabine Breitwieser (Hg), Adrian Piper seit 1965: Metakunst und Kunstkritik, Wien 2005. Der englische Originaltext findet sich auch online:
http://www.adrianpiper.com/doc...

5) In: Édouard Glissant, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielfalt, Übersetzung: Barbara Schlichte, Heidelberg 2005

6) „The Mythic Being“, Video (1973, 00:08:00)

7) Behaviorismus fasst das Individuum als eine Blackbox auf, dessen Verhalten nur aufgrund seiner Interaktion mit der Umwelt entschlüsselt werden kann.

8) Die Seite dokumentiert und diskutiert kulturelle Repräsentationen von „blackness“. Sie präsentiert Essays, Interviews, Rezensionen und Videos. Sie wird von Meg Onli inhaltlich betreut und von Gracen Brilmyer herausgegeben.
http://blackvisualarchive.com

9) Meg Onli, „Passing, Passing“, http://blackvisualarchive.com/...

10) Andrew Blackley, „On Behavior“, http://blackvisualarchive.com/...

11) Adrian Piper, „Cornered“, Videoinstallation, Museum of Contemporary Art, Chicago 1988