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Befreiend weiblich
Dagmar Fink, 2011

Zum ersten und lange Zeit einzigen Mal las ich Ausschnitte aus Das andere Geschlecht [1] relativ zu Beginn meines Studiums – das war in den späten Achtzigern. Ich glaube, im Rahmen eines Seminars, das den Titel „Patriarchatskritik als Gesellschaftsanalyse“ trug – es muss in jedem Fall ein gesellschaftswissenschaftliches Seminar zu feministischer Theorie gewesen sein. Von dieser Lektüre ist bei mir hängen geblieben, dass Das andere Geschlecht die Situation von Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts extrem umfangreich, scharfsinnig und belesen analysiert. (Das Buch behandelt zwar nur die Situation von Weißen, [2] vorwiegend bürgerlichen, westlichen, heterosexuellen Frauen – aber das ist mir erst bei der Relektüre aufgefallen). Beauvoir prangert insbesondere die ökonomische Abhängigkeit von Frauen und deren rechtliche Situation an, diskutiert aber auch — 1949! — Sexualität als politische Frage. Dank der unvergleichlichen Nina Hagen habe ich außerdem stets im Ohr, dass Beauvoir die vorherrschende Mutterideologie als Unterdrückungsinstrument wertet: „Simone de Beauvoir sagt: Gott bewahr! Und vor dem ersten Kinderschrei’n muss ich mich erstmal selbst befrei’n.“ [3] Daher war von meiner ersten Lektüre auch haften geblieben, dass Beauvoir Weiblichkeit als patriarchalen Mythos „entlarvt“, der dazu dient, Frauen zu unterwürfigen, männeridentifizierten Hausfrauen und Müttern zu machen. Frauen, die diesem Mythos auf den Leim gehen und Weiblichkeit nicht verwerfen, sind nicht nur nicht emanzipiert, sondern auch Kompliz/innen ihrer eigenen Unterdrückung. Soweit die Erinnerung an meine damalige Lektüre, die mit Erinnerungen an andere feministische Texte verschwimmt, die ich zu der Zeit gelesen habe und die zu ähnlichen Beurteilungen von Weiblichkeit kommen.

„On ne naît pas femme: on le devient“ – der wohl berühmteste Satz Simone de Beauvoirs – zirkulierte im Deutschen lange als: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht“. Diese Übersetzung legt nahe, dass Weiblichkeit eine Zurichtung ist, die aus Menschen Frauen macht. Und das meint Beauvoir auch so. Doch weist die präzisere Version – „man wird es“ – zudem darauf hin, dass es Frauen nicht von Natur aus gibt und Weiblichkeit keine angeborene Qualität darstellt. Und auch das sieht Beauvoir so. Damit ist sie anschlussfähig an eine queer-feministische Perspektive, die seit den 1990ern am prominentesten von Judith Butler vertreten wird: Mit dem Begriff der Heteronormativität werden aus dieser Perspektive die Natürlichkeit, Eindeutigkeit und Unveränderlichkeit von Geschlecht und Sexualität in Frage gestellt und die Zweigeschlechterordnung und heterosexuelle Norm als zentrale gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse benannt. Die heteronormative Matrix strukturiert die Vielfalt geschlechtlicher Existenzweisen als zwei eindeutige, klar voneinander abgrenzbare und sich ausschließende Geschlechter und verlangt eine Übereinstimmung von anatomisch-biologischem Geschlechtskörper, soziokulturellem Geschlecht und Sexualität. In Folge wurde nach geschlechtlichen Existenzweisen geforscht, die Heteronormativität und Zweigeschlechterordnung unterwandern. Cross-Dressing, Transsexualität, weibliche Männlichkeiten, wie Butches oder Drag Kings, aber auch Drag Queens wurden als subversive, campe Geschlechterperformanzen zelebriert. Doch seltsamerweise waren es nie Weiblichkeiten, die queer, subversiv, parodistisch waren. Nicht einmal Drag Queens ließen sich unbeschwert als subversive männliche Weiblichkeiten feiern – ihnen haftete irgendwie der „Makel“ des Weiblichen an. Sie standen im Verdacht, die „besseren Frauen“ sein zu wollen, misogyn zu sein und letztendlich heteronormative Weiblichkeit nicht in Frage zu stellen, sondern vielmehr deren Perfektion anzustreben. Die Marginalisierung und (implizite) Geringschätzung von Weiblichkeiten setzte sich in zahlreichen queer-feministischen Entwürfen also fort.

Verärgert über diese Ent-Wertung habe ich mich in den letzten zehn Jahren daher zunehmend mit Weiblichkeiten beschäftigt. Mein Hauptinteresse galt der Femme als Figuration queerer, also sich kritisch von der (Hetero-)Norm unterscheidender, Weiblichkeit. [4] Sie ist nicht einfach „Femme“, also „Frau“, sondern „Femme“: ähnlich wie „Frau“ und zugleich eigenwillig anders. In ihren Selbstrepräsentationen nutzen Femmes zwar Zeichen traditioneller Weiblichkeit, sie arbeiten diese jedoch um, verschieben und resignifizieren sie. Ihr ironisches und auch lustvolles Spiel damit, „zu erscheinen wie“ und zugleich „nicht zu erscheinen wie“, destabilisiert heteronormative Erwartungen – ohne jedoch in Opposition zu Weiblichkeit zu treten. [5] Während viele Femmes irrigerweise als Frauen gelesen werden, müssen sie nicht notwendigerweise ein weibliches Ausgangsgeschlecht haben: Es gibt auch männliche Femmes, Transfemmes usw. Im Rahmen der Theoretisierung queerer Weiblichkeiten kritisieren mehrere Autor/innen, dass feministische Analysen traditioneller, stereotyper Weiblichkeiten als Form der Unterdrückung von sogenannten „Frauen“ als „Frauen“ wichtig und notwendig waren. Es sei jedoch ebenso notwendig zu analysieren, in welcher Weise Weiblichkeiten subversiv und machtvoll sein können. Weiblichkeit sei kein Schicksal, sondern eine Entscheidung – auch von jenen, die in einer heteronormativen Ordnung als „Frauen“ gelesen werden.

Weil ich außerdem verstehen wollte, warum – paradoxerweise – auch in feministischer und queerer Theoriebildung Weiblichkeit entwertet wird, unterzog ich Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht einer Relektüre. Immerhin ist dieses Buch so etwas wie ein feministischer „Urtext“. Darüber hinaus versteht Beauvoir Geschlecht als ein Werden – und nicht als Sein. Und wenn Geschlecht etwas ist, das uns nicht gegeben ist, sondern das wir erst werden, dann können wir es auch auf unterschiedliche Weise gestalten. Folglich gibt es keinen Grund, warum Weiblichkeit immer schon heteronormativ sein muss. Oder? Irgendetwas muss also schon seit Beauvoir schief laufen, wenn Weiblichkeit ausschließlich und ungebrochen als patriarchales Unterdrückungsinstrument gelesen wird. In meiner Relektüre konzentrierte ich mich auf die Einleitung und auf das Kapitel über den Mythos, das ursprünglich als Vorabdruck zu Das andere Geschlecht erschien und in dem Beauvoir Weiblichkeit als patriarchalen Mythos ausarbeitet. [6] Außerdem las ich das Kapitel über „Die Lesbierin“, in der Annahme, dass dort auch das eine oder andere Wort über Weiblichkeit verloren wird.

Noch eine Bemerkung zu einem Aspekt, den ich völlig vergessen hatte: nämlich die Freude, die mir Beauvoirs Sprache bereitet und ihr Anliegen, literarisches und wissenschaftliches Schreiben miteinander zu verbinden. Auch wenn sie komplexeste Themen analysiert, bemüht sie sich um eine poetische Sprache, die Dinge noch einmal anders zu verstehen geben kann als eine rein wissenschaftliche. Unter Umständen ist es so möglich, dass Leser/innen Zusammenhänge nicht nur verstehen, sondern sie auch empfinden. Diesbezüglich bin ich allerdings etwas gespalten, was Uli Aumüllers und Grete Osterwalds Neuübersetzung anbelangt: Diese ist zweifellos nicht nur begrifflich präziser und macht Das andere Geschlecht gerade aus heutiger Perspektive wesentlich zugänglicher. Sie ist allerdings auch trockener. So wird aus dem „Seidenrascheln eines Unterrocks“ schlicht ein „aufreizender Unterrock – und damit die Formulierung gänzlich ihrer Sinnlichkeit beraubt. [7]

Doch zurück zur Weiblichkeit: Wie nach ihr auch Irigaray erklärt Beauvoir, es gebe keine positive Bestimmung der Frau: Die Menschheit sei männlich und die Frau werde als das Andere des Mannes definiert, dieser jedoch nicht in Abhängigkeit zu ihr. Daher erscheine der Mann als das Wesentliche, das Absolute, die Frau als das Unwesentliche. Der Mann entwerfe sich als mit schöpferischer Transzendenz gesegnetes Subjekt, als Für-sich-sein. Weiblichkeit hingegen sei gleichbedeutend mit Immanenz, dem Sein-für-ein-Anderes, und damit auch mit Reproduktion, Fortpflanzung, Fürsorge, Körperlichkeit, Vergänglichkeit… Erst wenn Frauen sich als Menschen behaupten, so Beauvoir, verlieren sie die Eigenschaft des Anderen. Weiblichkeit begreift sie dementsprechend als künstlich und artifiziell, als Zurichtung und Verstümmelung. Damit analysiert sie jedoch nicht nur, in welcher Weise (Weiße, heterosexuelle, …) Weiblichkeit in modernen, bürgerlichen, westlichen Gesellschaften konstruiert wird, sie folgt dieser Beschreibung auch und widerspricht ihr nicht. Zwar kritisiert Beauvoir auch die Konstruktion von Männlichkeit als reines Für-sich-sein, im Wesentlichen verbleibt sie jedoch innerhalb des Rasters Menschlichkeit gleich Männlichkeit. Und sie fragt gerade nicht nach den Qualitäten, die das „Frau werden“, oder besser: das Aneignen von unterschiedlichen Weiblichkeiten für unterschiedliche Subjekte haben kann. An einer Stelle geht Beauvoir sogar so weit, feminine Frauen mit Kastraten zu vergleichen. Doch ist die weibliche Frau, die sie der emanzipierten und der modernen Frau gegenüberstellt, nicht nur Opfer, sie ist auch Täter/in, indem sie sich selbst zur „passiven Beute“ macht und versucht, auch den Mann zur fleischlichen Passivität zu nötigen: Sie verlege sich darauf, „ihn in die Falle zu locken“ und „ihn durch das Begehren, das sie als fügsam sich darbietendes Ding hervorruft, zu fesseln“. [8]

Bei ihren Überlegungen zu „der“ Lesbe, die sich insgesamt zwischen Glorifizierung und Verniedlichung bewegen, kommt Beauvoir teilweise zu anderen Einschätzungen: Passivität bedeutet hier noch nicht, darauf zu verzichten, auch Subjekt sein zu wollen. Dies ändert jedoch nichts an ihrer Perspektive auf Weiblichkeit. Denn selbst wenn sie lesbische oder queere Beziehungen beschreibt, setzt sie ihre heteronormative Brille nie ab. Bemerkenswert neugierig und offen beschäftigt sich Beauvoir mit unterschiedlichsten Formen von Weiblichkeiten (und weiblichen Männlichkeiten). Am Beispiel literarischer Texte (z.B. Gertrude Stein, Colette, Radclyffe Hall) zeigt sie Weiblichkeiten, die nicht in eine heteronormative Matrix passen oder sich ihr explizit widersetzen. Gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, dabei etwas anderes als „Frau“ zu erkennen und ordnet jegliche Weiblichkeit in das Raster der Zweigeschlechterordnung ein. Dies wird auch deutlich, wenn sie lesbischen Sex als wechselseitige Spiegelung beschreibt. Liebkose eine z.B. den Busen der anderen, spüre erstere nicht nur die Berührung, sie wisse zugleich, was die Geliebte bei der Liebkosung empfindet. Beauvoir geht also davon aus, dass es einen weiblichen Geschlechtskörper gibt, der von allen gleich erfahren wird. Doch identifizieren sich nicht alle, die einen weiblichen Geschlechtskörper haben, auch als Frauen. Darüber hinaus werden Geschlechtskörper – auch weibliche – je individuell erfahren und gelebt.

Andere gesellschaftliche Kategorisierungen, wie Rassisierung, [9] Klasse oder Ethnizität, hat Beauvoir zwar im Blick, sie betrachtet diese jedoch stets von Weiblichkeit getrennt. Die Schnittstellen, die markieren, was es bedeutet, als bürgerliche Frau oder als proletarische, als Weiße oder als Schwarze Frau in der Welt zu sein, und was das wiederum jeweils für Weiblichkeitskonzeptionen heißt – betrachtet Beauvoir nicht. Das andere Geschlecht konstruiert den einen Weiblichkeitsmythos, der ein Weißer, westlicher, bürgerlicher und heteronormativer ist. Dabei analysiert Beauvoir dessen Historizität, die Zweigeschlechterordnung behandelt sie jedoch – wider besseres Wissen – als Konstante. So gelingt es ihr nicht, unterschiedliche gesellschaftlich bestimmte wie auch individuell gelebte und hervorgebrachte Weiblichkeitskonzepte zu erkennen. Shakira, Amy Winehouse, Marla Glen oder Johanna Dohnal – sie alle würden unter dem einen Weiblichkeitsmythos zusammengefasst, während Boy George nicht einmal als weiblich zu lesen wäre. Und eben hierin – in der Konstruktion der einen Weiblichkeit, die der Freiheit entgegensteht – liegt, wie ich an Beauvoir nur exemplarisch gezeigt habe, eine der Ursachen für die Ent-Wertung von Weiblichkeiten.

Soll Weiblichkeit nicht per se im Widerspruch zu Freiheit stehen, müssen wir den Blick auf ihre Vielfältigkeit richten: Es gilt, die ungezählten Arten und Weisen zu sehen, in denen sich Subjekte – mit der Norm und gegen sie – Weiblichkeit aneignen. Erst dann lässt sich analysieren, welche Effekte die unterschiedlichen Setzungen nicht-heteronormativer Weiblichkeiten haben. Oder anders gesagt: Erst dann können wir die Möglichkeiten an-erkennen und wertschätzen, befreiend weiblich zu werden.

/

Dagmar Fink ist Kulturwissenschafterin, Übersetzerin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien.

Redaktion: Sabine Rohlf, Jo Schmeiser

Anmerkungen

1) Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe, Paris 1949; Das andere Geschlecht, Übersetzung von Eva Rechel-Mertens und Fritz Montfort: Hamburg 1951, Neuübersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald: Reinbek bei Hamburg 1992

2) In Anlehnung an Texte der Kritischen Weißseinsforschung schreibe ich „Weiß“ groß, um zu markieren, dass es sich dabei nicht um eine „Hautfarbe“, sondern um eine gesellschaftliche Position innerhalb eines rassistischen Kategorisierungssystems handelt.

3) Nina Hagen, 1978, „unbeschreiblich weiblich“

4) Siehe z.B.: http://www.das-femme-buch.de/

5) Vergleiche meinen Text: „Rot wie eine Kirsche, pink wie Fuchsia: Femme in Melissa Scotts queer-feministischer Science Fiction“, in: Barbara Holland-Cunz et al (Hg), Genderzukunft. Zur Transformation feministischer Visionen in der Science-Fiction, Königstein 2008, S. 169-187.

6) Ein Auszug aus dem Mythenkapitel erschien 1948 als Vorabdruck in der Zeitschrift Les Temps Modernes, 1949 folgten Auszüge aus dem zweiten Teil von Le deuxième sexe. Siehe dazu: Ursula Konnertz, „Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht“, in: Martina Löw, Bettina Mathes (Hg), Schlüsselwerke der Geschlechterforschung, Wiesbaden 2005, S. 32, Lieselotte Steinbrügge auf: http://www.querelles-net.de/in... und Simone de Beauvoir, Der Lauf der Dinge, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 166 und 173.

7) Das andere Geschlecht, 1951: Seite 8, 1992: Seite 9

8) Ebenda, 1992: Seite 884

9) Der Begriff „Rasse“ verweist im deutschsprachigen Raum unweigerlich auf den Nazismus und die Shoah. Daher gebrauche ich den Begriff der „Rassisierung“, der eine Denaturalisierung vermeintlich natürlicher bzw. biologischer Klassifizierungen bewirken will – nicht zuletzt durch seine grammatikalische Form, die ein Handeln, ein Tun impliziert – dabei jedoch den Rückbezug auf die Konstruktion „Rasse“ ermöglicht. Siehe dazu die Anmerkungen des queer-feministischen Übersetzungskollektivs gender et alia: http://www.genderetalia.net/au...