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M f G – meine falschen Großeltern
Lilly Axster, 2012

Die Kinder in Aichingers Roman spielen am Donaukanal in Wien. Sie wünschen sich, ein eventuell vorbeischwimmendes, ertrinkendes Baby zu retten. Als Belohnung dafür erhoffen sie sich die Erlaubnis, wieder auf Parkbänken sitzen zu dürfen.

Ich folge den Orten im Buch. Schlendere durch Wien, die Stadt, in der ich seit über zwanzig Jahren lebe, bis zum Donaukanal. Mache Rast auf einer Bank. Ohne nachzudenken. Warum sollte ich auch. „Schönen Gruß an die Großeltern.“ Meine standen auf der anderen Seite als die Großeltern der Romankinder. Meine Großeltern saßen auf Parkbänken, wann sie wollten. Sie haben mir diese Selbstverständlichkeit weitergegeben als privilegiertes Raumgefühl. In dieser Stadt. Und anderen.

„Unsere Großeltern sind uns zur Schuld geworden.“

Wenn sie Nazis waren, denke ich. Wenn sie aktiver Teil des mörderischen Systems waren, denke ich. Wenn sie uns die Verantwortung gelassen haben, umzugehen mit dem, was sie anderen angetan und nach 1945 verschwiegen haben, denke ich, wenn ich den Satz lese: „Unsere Großeltern sind uns zur Schuld geworden.“

Aber Aichingers Protagonistin Ellen und deren Freund/innen sagen diesen Satz und meinen ihre Großeltern, die als „Juden“ [1] verfolgt wurden, als „Halbjuden“ klassifiziert, und ihrer Stellen, ihres Besitzes, ihrer Freiheit und ihres Lebens beraubt wurden.

Als Enkelin zweier deutscher Großelternpaare, die ideologisch und konkret an NS-Verbrechen beteiligt waren, kann ich wählen, ob ich mich schuldig fühle. Oder bloß verantwortlich. Oder nichts von beidem. Während Ellen und die anderen Kinder automatisch „schuldig“ gesprochen sind durch rassistische, antisemitische Gesetze.

Nicht mehr auf Parkbänken sitzen, nicht mehr Karussell fahren, alles nicht mehr dürfen.

Sie tun es doch, Ellen, Georg, Ruth, Bibi, Herbert, Kurt, Hanna und Leon. Setzen sich auf Parkbänke, fahren Karussell, sie überqueren Brücken, die nicht mehr da sind, sie wehren sich kraft ihrer Gedanken, Fantasie und ihres Lebenswillens gegen die Logik von „richtigen“ und „falschen“ Großeltern, sie wehren sich gegen die vermeintlichen Sachzwänge von Konsuln, die Visa ausstellen oder nicht und damit über Leben und Tod entscheiden. An langen Tagen und in durchwachten Nächten nehmen die Kinder sich allen Raum, verändern die Verhältnisse, sie deuten sie um, sie erfinden sie neu. Es ist nicht immer leicht, ihren Gedanken zu folgen. Aber die Gefühle sind klar. Ellens Widerständigkeit liegt keine moralische oder politische oder rational getroffene Entscheidung zugrunde. Sondern in jedem Moment zählt nur das Nächstliegendste: Sehen, was ist. Sagen, was verschwiegen wird. Zulassen, was sich anfühlt. Schreien und weinen, wenn es wehtut. Rennen, wenn es gefährlich wird. Haben wollen, was fehlt. Kuchen essen, wenn Geburtstag ist. Schlafen, wenn die Kraft ausgeht. Träumen, wenn nichts anderes hilft. Ganz einfach, sehr klar.

Vielleicht ist das die radikalste Form zu widerstehen: Klarheit herstellen. Benennen.

Ilse Aichinger hat das schon 1948 getan. Die Vielschichtigkeit jedes einzelnen Charakters in ihrem Roman, jeder einzelnen Kinderpersönlichkeit, macht auf kompromisslose Weise klar, was die politischen Verhältnisse im angeschlossenen Österreich den als nicht „arisch“ markierten Protagonist/innen bis hinein in ihre kindlichen Assoziationen, flüchtigen Gedanken und alltäglichen Spiele zugemutet haben. Dabei war die Ausgrenzung zusätzlich auf perfide Art spaltend, indem Kinder mit vier „falschen“ Großeltern der Verfolgung und Bedrohung stärker ausgesetzt waren als Kinder wie Ellen mit „nur“ zwei „falschen“ Großeltern.

Ich lasse den Kanal hinter mir und komme vom zweiten in den dritten Wiener Gemeindebezirk und Aichingers Kindheitsviertel zwischen dem ehemaligen Aspangbahnhof, von dem die meisten der 65.000 österreichischen Juden und Jüdinnen, die in Vernichtungslagern umgekommen sind, deportiert wurden, dem Schloss Belvedere, das in der NS-Zeit irregulär Werke für die Bildersammlung erworben hat, und dem Arsenal, in dem Panzerreparaturwerkstätten der Waffen-SS untergebracht waren.

Der Kleistgasse, Mohsgasse und Fasangasse inmitten dieser Nachbarschaft hat Aichinger mit ihrem Erzählband „Kleist, Moos, Fasane“ ein Denkmal gesetzt. Auf dem Cover der Fischer Taschenbuchausgabe sind auf grauem Grund große Buchstaben, „Kl M Fa“, abgebildet, die Anfangsbuchstaben der drei Gassen. „Die größere Hoffnung“, Romantitel auf blauem Taschenbuchumschlag, ist in die Buchstaben „dgH“ zerlegt, was auch ,den ganzen Hass‘ meinen könnte, der im Roman unter anderem dazu führt, dass Ellen von einer Granate in Stücke gerissen wird. „Un Re“ steht für Aichingers 2005 erschienene „Unglaubwürdige Reisen“. ,Unerträgliche Realitäten‘ könnte es auch heißen, oder ,Unbedingt reagieren!‘ „E E“, Fischer Taschenbuch, Band 11043. „Ende der Erzählung“?

,Wie spricht man über den Strick im Haus des Henkers?‘ sollte der Titel eines Vortrags im Rahmen der Tagung „The Presence of the Absence. International Holocaust Conference for Eyewitnesses and Descendants of ,both sides‘“ heißen. Katherine Klinger, die im Rahmen von Conzepte ebenfalls zu Aichingers Buch schreibt, hat diese Tagung 1999 in Wien organisiert, um die unterschiedlichen Erfahrungen von Nachkommen von Täter/innen und von Überlebenden des Holocaust zu diskutieren. Nachdem ein Referent aus Deutschland für seinen Vortrag diesen Titel bekannt gegeben hatte, erhielt Klinger von den österreichischen Mitveranstalter/innen folgende Übersetzung geschickt: „How does one speak about the rope in the house of the hanged?“ [2]

Un Re. Unhinterfragte Reinszenierung?

„Der Gefesselte“, Erzählband Aichingers aus dem Jahr 1953, ist in der Erstausgabe 1952 noch als „Rede unter dem Galgen“ erschienen. War auch dieser Titel für ein Lesepublikum Anfang der 1950er Jahre nicht tragbar? [3]

M f G, meine falschen Großeltern. Ich schreibe diesen Text als Nachfahrin der Täter/innenseite, ausgehend von Ilse Aichingers Buch über ausgegrenzte, verfolgte und ermordete Kinder, und als Conzepte-Gegenüber von Katherine Klinger, deren Konferenz einen Vortragstitel ankündigen wollte, der in Österreich nicht einmal gedacht werden konnte. Un Re. Unmögliches Reden?

Irgendwann komme ich zurück an den Donaukanal. Die Kinder, die im Roman ein ertrinkendes Baby retten wollen, unterbrechen dieses Vorhaben, als sich ihnen trotz Verbots die Möglichkeit bietet, Karussell zu fahren. Ellen, die, mit „nur“ zwei „falschen Großeltern“, von dem Verbot nicht betroffen ist, bleibt derweil am Kanal zurück. Tatsächlich fällt ein Baby, von seinem Geschwisterchen in einen schlingernden Kahn gesetzt, ins Wasser. Ellen springt hinterher und rettet den Säugling vor dem Ertrinken. Als die Freund/innen von der Karussellfahrt zurückkommen und die Situation erfassen, schreit Ellen verzweifelt „Ich kann nichts dafür […], ich kann nichts dafür! Ich wollte euch rufen, aber ihr wart zu weit weg, ich wollte –“ Die entgeisterten Kinder sind wie im Innersten gefroren. Die Hoffnung weg. Das Gefühl von Verrat.

„Ich kann nichts dafür!“ Aber sie sind stärker, diese Kinder, als die völkische NS-Logik, die sie gegeneinander aufhetzen soll. Georg, Ruth, Bibi, Herbert und Kurt und Hanna und Leon, denen es streng verboten ist, setzen sich wenig später demonstrativ alle gemeinsam, mit Ellen, auf eine Bank.

Auf der anderen Seite des Kanals ist das Riesenrad zu sehen. Ich überlege, einen Abstecher in den Prater zu machen, und, als Hommage an Aichinger und ihre literarischen Kinder, Karussell zu fahren. „Sie flogen [auf dem Karussell, L. A.] gegen das Gesetz ihrer schweren Schuhe und gegen das Gesetz der geheimen Polizei. […] Tief unten stand mit verschränkten Armen der Budenbesitzer. Er schloß die Augen. In dieser Sekunde hatte er seine Schießbude gegen die ganze Welt vertauscht.“

Meine „falschen Großeltern“ waren keine Schießbuden- und Karussellbesitzer/innen, die verfolgten Kindern auch nur für einen Moment die ganze Welt geboten hätten. Die wollten sie nur für ihre eigenen Kinder und deren Kinder, mich zum Beispiel, und die „arische“ Idee. Ich denke an die Begegnung letzten Sommer mit zwei Wienbesucherinnen aus den USA und England, die in den Prater wollten. Dort auf einer Parkbank zu sitzen, seien sie ihrer Mutter, die Wien auf einem Kindertransport verlassen musste, schuldig. Und ihren aus Wien deportierten und ermordeten Großeltern. Ob ich mit ihnen kommen wolle, fragten sie, was ich ablehnte. Weil ich mir nichts vorstellen konnte. Weder mit den beiden auf einer Bank im Prater zu sitzen. Noch neben der Bank zu stehen oder dahinter. Noch, auf einer anderen Bank zu sitzen. Kein Bild war möglich.

Nichts Prater.
Ich bleibe am Donaukanal.
Kinder auf Fahrrädern, im Gras, auf Bänken, aber vermutlich keine, die darauf warten, dass sie ein ertrinkendes Kind retten können, um es dem Bürgermeister zu übergeben mit der Aussicht, wieder in den Besitz aller vermeintlich selbstverständlichen Kinderrechte zu kommen. Sie sollten erweitert werden, die Kinderrechte, heute, um das Recht auf Klarheit. Im Bemühen um ein klärendes Reden über das, was war. Damals war. Und heute ist. In dieser Stadt. Am Donaukanal. In Wien. Und darüber hinaus. Vielleicht ist das die radikalste Form, sich mit dem „eigenen Haus“ als „Haus des Henkers“ auseinanderzusetzen:

Klarheit fordern. Benennen. Sehen, was ist. Sagen, was verschwiegen wird. DgH.
Das genaue Hinschauen.

Die größere Hoffnung wäre dann zum Beispiel, dass Kinder selber entscheiden, was ihre Differenzen sind und ob sie einander über diese hinweg als Freund/innen verbunden bleiben möchten. Die größere Hoffnung wäre dann, dass mit falschen Großeltern jene gemeint sind, die über alle Parkbänke dieser Welt herrschen wollten. Und wollen. Die größere Hoffnung wäre, dass Kinder wie Ellen kein Visum mehr brauchen, um dorthin zu reisen, wo sie sicher sind. Die größere Hoffnung wäre, dass Stimmen wie Ilse Aichingers zu hören sind:

„Wer ist fremder, ihr oder ich? Der haßt, ist fremder, als der gehaßt wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zu Hause fühlen.“ Aichinger, Die größere Hoffnung

Dank an Helga Hofbauer, Felix Axster und Renée Winter.

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Lilly Axster ist Autorin und Regisseurin und lebt in Wien.

Redaktion: Sabine Rohlf, Jo Schmeiser

Anmerkungen

1) Die Anführungsstriche verweisen darauf, dass während des Nazismus auch Personen als „Juden“ klassifiziert wurden, die sich selbst nicht als solche bezeichnet oder begriffen hätten. (Anmerkung der Redaktion)

2) „Eigentlich müsste es heißen: ,How does one speak about the rope in the house of the Hangman?‘ Katherine Klinger in: Klub Zwei (Hg), Things. Places. Years. Das Wissen Jüdischer Frauen, Innsbruck / Wien / Bozen 2005

3) Ilse Aichinger, Rede unter dem Galgen. Erzählungen, erscheint 1952 im Jungbrunnenverlag Wien. 1953 bringt S. Fischer, Frankfurt am Main, den Band unter dem Titel Der Gefesselte. Erzählungen heraus.