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Die größere Hoffnung
Ilse Aichinger, 1948

Ellen schob die Matrosenmütze aus dem Gesicht und zog die Stirne hoch. Plötzlich legte sie die Hand auf das Mittelmeer, eine heiße kleine Hand. Aber es half nichts mehr. Die Dunkelheit war in die Häfen von Europa eingelaufen.
Schwere Schatten sanken durch die weißen Fensterrahmen. Im Hof rauschte ein Brunnen. Irgendwo verebbte ein Lachen. Eine Fliege kroch von Dover nach Calais.
Ellen fror. Sie riß die Landkarte von der Wand und breitete sie auf den Fußboden. Und sie faltete aus ihrem Fahrschein ein weißes Papierschiff mit einem breiten Segel in der Mitte.
Das Schiff ging von Hamburg aus in See. Das Schiff trug Kinder. Kinder, mit denen irgend etwas nicht in Ordnung war. Das Schiff war vollbeladen. Es fuhr die Westküste entlang und nahm immer noch Kinder auf. Kinder mit langen Mänteln und ganz kleinen Rucksäcken, Kinder, die fliehen mußten. Keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu bleiben und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen.
Kinder mit falschen Großeltern, Kinder ohne Paß und ohne Visum, Kinder, für die niemand mehr bürgen konnte. Deshalb fuhren sie bei Nacht.

Als Ellen erwachte, vermißte sie sofort die Landkarte. Keine Rede, daß ein Stück Schokolade und ein schlafender Konsul sie darüber hinwegtrösten konnten. Sie faltete die Stirn und zog die Knie an sich. Dann stieg sie über die Lehne und rüttelte den Konsul an den Schultern.
„Wo haben Sie die Landkarte hingetan?“
„Die Landkarte?“ sagte der Konsul verwirrt, zog seine Krawatte zurecht und strich sich mit der Hand über die Augen.
„Wer bist du?“
„Wo ist die Landkarte?“ wiederholte Ellen drohend.
„Ich weiß es nicht“, sagte der Konsul ärgerlich. „Oder meinst du, ich hätte sie vesteckt?“
„Vielleicht“, murmelte Ellen.
„Wie kannst du das von mir glauben?“ sagte der Konsul und streckte sich. „Welcher Mensch wollte die ganze Welt verstecken?“
„Da kennen Sie die großen Leute schlecht!“ erwiderte Ellen nachsichtig. „Sind Sie der Konsul?“
„Der bin ich.“
„Dann –“, sagte Ellen, „dann –“; ihre Lippen zitterten.
„Was ist dann?“
„Dann haben Sie doch die Landkarte versteckt.“
„Was soll der Unsinn?“ sagte der Konsul zornig.
„Sie können es gutmachen.“ Ellen wühlte in ihrer Schultasche. „Ich habe meinen Zeichenblock mitgebracht und eine Feder. Falls Ihr Schreibtisch schon versperrt ist.“
„Was soll ich damit?“
„Das Visum“, lächelte Ellen ängstlich, „bitte schreiben Sie mir das Visum! Meine Großmutter hat gesagt: Es liegt an Ihnen, Sie müssen nur unterschreiben. Und meine Großmutter ist eine gescheite Frau, das können Sie mir glauben!“
„Wäre es nicht möglich, daß du alles geträumt hast?“ fragte er vorsichtig.
„Geträumt?“ rief Ellen. „Keine Spur! Dann hätte ich ja auch geträumt, daß die Kinder im Hof nicht mit mir spielen wollen, dann hätte ich geträumt, daß meine Mutter ausgewiesen ist und ich allein bleiben muß, dann hätte ich geträumt, daß niemand für mich bürgt, dann hätte ich nur geträumt, daß Sie die Landkarte versteckt haben und daß mein Visum verweigert ist!“
„Alle Kinder schlafen“, sagte der Konsul langsam, „nur du nicht.“
„Bei Nacht sind weniger Leute auf dem Konsulat“, erklärte Ellen, „bei Nacht braucht man keine Nummer, bei Nacht geht alles viel schneller, weil es keine Amtsstunden gibt!“
„Gute Idee!“
„Ja!“ lachte Ellen.

Wer den Nachweis nicht bringen kann, ist verloren, wer den Nachweis nicht bringen kann, ist ausgeliefert. Wohin sollen wir gehen? Wer gibt uns den großen Nachweis? Wer hilft uns zu uns selbst?
Unsere Großeltern haben versagt: Unsere Großeltern bürgen nicht für uns. Unsere Großeltern sind uns zur Schuld geworden. Schuld ist, daß wir da sind, Schuld ist, daß wir wachsen von Nacht zu Nacht. […] Schuld sind die Alten an uns, die Älteren an den Alten und die Ältesten an den Älteren. Ist es nicht wie der Weg an den Horizont? Wo geht sie zu Ende, die Straße dieser Schuld, wo hört sie auf? Wißt ihr es?
Wo erwachen die Gewesenen? Wo heben sie die Köpfe aus den Gräbern und zeugen für uns? Wo schütteln sie die Erde von den Leibern und schwören, daß wir wir sind? Wo endet das Hohngelächter?
Hundert Jahre zurück, zweihundert Jahre zurück, dreihundert Jahre zurück? Nennt ihr das den großen Nachweis? Zählt weiter! Tausend Jahre, zweitausend Jahre, dreitausend Jahre. Bis dorthin, wo Kain für Abel und Abel für Kain bürgt, bis dorthin, wo euch schwindlig wird, bis dorthin, wo ihr zu morden beginnt, weil auch ihr nicht mehr weiter wißt. Weil auch ihr nicht verbürgt seid. […]
Wenn ihr uns verboten habt, im Stadtpark zu spielen, so spielen wir auf dem Friedhof. Wenn ihr uns verboten habt, auf den Bänken zu rasten, so rasten wir auf den Gräbern. Und wenn ihr uns verboten habt, das Kommende zu erwarten: Wir erwarten es doch.

„Laßt mich mitspielen!“
„Schau, daß du wegkommst.“
„Laßt mich mitspielen!“
„Geh endlich!“
„Laßt mich mitspielen!“
„Wir spielen gar nicht.“
„Was denn?“
„Wir warten.“
„Aber worauf?“
„Wir warten, daß hier in der Gegend ein Kind ertrinkt.“
„Weshalb?“
„Wir werden es dann retten.“
„Und dann?“
„Dann haben wir es gutgemacht.“
„Habt ihr etwas schlecht gemacht?“
„Die Großeltern. Unsere Großeltern sind schuld.“
„Ach. Und wartet ihr schon lange?“
„Sieben Wochen.“
„Und ertrinken hier viele Kinder?“
„Nein.“
„Und ihr wollt wirklich warten, bis ein Wickelkind den Kanal herunterschwimmt?“
„Weshalb nicht? Wir trocknen es ab und bringen es dem Bürgermeister. Und der Bürgermeister sagt: Brav, sehr brav! Von morgen ab dürft ihr wieder auf allen Bänken sitzen. Eure Großeltern sind euch vergessen. Vielen Dank, Herr Bürgermeister!“
„Bitte sehr, gern geschehen. Schönen Gruß an die Großeltern!“

/

Die größere Hoffnung von Ilse Aichinger erschien erstmals 1948 im Bermann-Fischer Verlag NV, Amsterdam. Alle Rechte vorbehalten durch S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Hier zitiert wird die Ausgabe von 2000. Die Leerzeilen zwischen den gewählten Passagen markieren größere Auslassungen. Zitate: S. 7f, S. 12, S. 14, S. 46f, S. 29.