Conzepte
Texte
Autor/innen
Team
Zeitungen
 
Kontakt
Suche
 
English
Ilse Aichinger, 1948
Lilly Axster
Katherine Klinger
Conversations
 
Hannah Arendt, 1950
Hannah Fröhlich
Nicola Lauré al-Samarai
Conversations
 
Simone de Beauvoir, 1949
Dagmar Fink
Tom Holert
Conversations
 
Billie Holiday, 1939
Jamika Ajalon
Rúbia Salgado
Conversations
 
Adrian Piper, 1983
Belinda Kazeem
Anna Kowalska
Conversations
 
Yvonne Rainer, 1990
Monika Bernold
Langfassung
Kurzfassung
Referenztext Rainer
Shirley Tate
Conversations
Textszenario
Mo Bernold, 2012

Wie alles mit allem verbunden ist. Der Wetterbericht im deutschen Fernsehen mit einer Vergewaltigung. Der erfundene Anfang mit dem erträumten Beginn. Ein längst vergangener Anfang mit der Wiederholung. Der Anfang eines experimentierenden Textes, den eine Historikerin im Sommer 2012 in Wien schreibt, mit dem Anfang des Filmskripts zu Privilege von Yvonne Rainer, entstanden vor mehr als zwanzig Jahren, wahrscheinlich in New York.

Wie alles mit allem verbunden ist. Eine Provinzstadt in der Ukraine mit einer Universitätsstadt in Japan, deren beider Namen zu globalen Symbolen der nuklearen Katastrophe geworden sind. Der Name Helen Caldicott und der Zeitmesser 1986, die als Zwischentitel auf dem weiß flackernden Computerbildschirm des Apple Classic im Film Privilege zu sehen sind und meine Google-Suche nach, also mein Unwissen um Helen Caldicott, der australischen Ärztin und Ikone der Anti-Atombewegung, die, im Film gespielt von Yvonne Rainer, mich direkt anspricht aus einem großen Computermonitor, auf dem ich nicht nur meine Suchmaschine benutze, sondern auch die DVD von Privilege abspiele, nachts.

Wie sehr Yvonne Rainers Film das Auseinanderdriften von Film und Kino in einer Vielfalt anderer Konfigurationen des Medialen 1990 bereits bearbeitet und vorweggenommen hat.

ZT: Autorschaft als falsche Fährte

Filme über Filmemacher/innen interessieren mich als Historikerin und als Medienwissenschafterin. Meta-Filme, Porträt-Filme und filmische Autoporträts, die, so scheint es, in den letzten Jahren vermehrt auch im Kino zu sehen sind. Hugo, oder Les plages d’Agnès, für jene, die noch ins Kino gehen oder jene, die das Privileg haben, sich auf Festivals herumzutreiben und sich schöne Filme anzusehen. Ich recherchiere feministische Filme über filmische Autorschaft als Flüchtige, über Autorschaft als Platzhalterin, über Autorschaft als Zombie. [1]

Wie alle mit allen verbunden sind. Die Erinnerten und die Vergessenen, die dazwischen und daneben und die, die in Wirklichkeit nur möglich sind. Das Begehren. Das Begehren nach dem Dokumentarischen.

Die Kamera schwenkt zurück auf das Gesicht der alten Ähnlichkeit. In der Bildmitte noch immer deutlich sichtbar der Schriftzug: NESIGURNOST. Unsicherheit. Irgendjemand wird interviewt. Vielleicht Heiner Müller, „Kommt Zeit, kommt Tod“, hat er in einem Fernsehinterview gesagt.

ZT: INTER VIEW Zwischen Bild

Auch meine Hitzewellen dauern an, seltener nachts, doch nach jedem Glas Wein und vor allem, wenn ich ..., aber mich hat sie ja nicht interviewt, die Dokumentarfilmerin aus Yvonne Rainers Film.

Wie sähe unser Interview mit Yvonne Rainer zur Frage der Handlungsmacht in Filmporträts von Filmemacher/innen aus? Eine Filmemacherin und eine Historikerin interviewen die Tänzerin und Filmemacherin Y. R. Das Interview würde im Sommer 2015 an einem Ort stattfinden, der die gewählte Ortlosigkeit der Privilegierten auf die Bühne bringt. Es gäbe nur privilegierte Zeug/innen, keine Zeug/innen des Privilegs. Wer spricht? Wer ist sichtbar? Wer beginnt?

Whiteness funktioniert als unmarkiertes System der Privilegierung. „Was hat das alles mit uns zu tun?“, fragt eine weiße Studierende an der Sigmund Freud Privatuniversität in der Mitte Europas, wenn ein Semester lang Frantz Fanon gelesen, Imitation of Life analysiert und Theorien zur Konstruktion von Whiteness und Rassismus gelehrt und zur Prüfung gelernt werden sollen.

Verschiedene Stimmen antworten durcheinander, nichts Konkretes ist zu verstehen. Nichts Konkretes ist zu hören. Später, im Hintergrund: Johnny Cash, Man in Black

Das erste Filmskript, das ich in meinem Leben las, war Kino-Herz von Wladimir Majakowski aus dem Jahr 1926. Die Lektüre des Skripts von Privilege hat mich daran erinnert. Vielleicht wegen des ästhetischen Anspruchs auf gesellschaftliche Veränderung.

Das Kino-Herz ist eine Neufassung des Drehbuchs Die vom Filmstreifen Gefesselte. Ein Phantasie-Faktum in vier Teilen. Majakowski, dessen Autobiographie mit dem Satz beginnt, „Ich bin Poet. Das macht mich interessant“, entwirft eine satirische Kritik am Hollywood Kino und seiner Star- und Illusions-Produktion.

Die durchlässigen Grenzen von Dokument und Fiktion sind Thema, wenn auch in Form der ideologischen Propagierung des Filmrealismus. Im Kino-Herz geht es um einen Anstreicher, der sich in einen weiblichen Filmstar verliebt, dadurch zu einem Kunst- und Plakatmaler wird und schließlich die Wirklichkeit von seinem Wunschbild nicht mehr unterscheiden kann. Die Schöne aus dem Film Kino-Herz entweicht aus dem Filmplakat und aus dem Filmstreifen und flüchtet so wie Chaplin und Fairbanks aus der Kinowelt in die Wirklichkeit. Der Film-Produzent fängt alle geflohenen Filmstars wieder ein und fesselt sie mit dem Kinostreifen. Am Zündholz seiner Pfeife entzündet sich das Filmmaterial, das Brennen des Films wird zum revolutionären Moment.

Im Epilog wird der Kameramann, der einen Zimmermann bei der Arbeit filmt, zum Helden der neuen Zeit. Die schöne und junge Schauspielerin sieht ihm begeistert bei der Arbeit zu. Klassendifferenz ist hier noch im Kode Melonenhut versus Werkzeug (Pinsel, Kamera) symbolisiert. Die Hinwendung zum Filmrealismus wird im Format der ‚echten‘ Liebe transportiert. Die geschlechterpolitische Ökonomie dieser Liebe bleibt traditionell, sie wird als Arbeitsteilung von filmendem Kameramann und bei der Arbeit zusehender Schauspielerin erzählt. Es gibt keine kulturellen oder ethnischen Differenzen in Majakowskis Film-Szenario, nur geschlechts- und klassenspezifische Typisierungen. Die Schöne, der Anstreicher, der Aktionär, das Manikürfräulein, der Kameramann, die Schauspielerin und der Produzent. Es gibt keine (bürgerlichen) Namen im Kino-Herz.

Yvonne Washington heißt die Hauptfigur und Schwarze Filmemacherin in Yvonne Rainers Film. In ihrem Namen wird der Vater der Nation als Mutter der filmischen Narration aufgerufen und als Namensschwester der Filmemacherin Yvonne Rainer identifiziert.

Der Name meines Vaters war Dervis, das war in einer katholischen Mädchenschule im Wien der 1970er Jahre eher peinlich und sein Nachname Hasanagic machte nichts besser, im Gegenteil. Ich war erleichtert, dass ich seinen Namen nicht trug, auch wenn ein uneheliches Kind in diesen Jahren ein Zeugnis von Abweichung war und das Gesetz an der Ungleichheit und der Privilegierung der Hetero-Ehe orientiert gewesen ist. Die falsche Nation jedenfalls war in dem unaussprechlichen und fremden Namen des Vaters gespeichert, spürte ich als Kind. Mein Vater heißt Dario, er ist Italiener, sagte ich deshalb oft. Was wir sind, ist das Ergebnis der Narration ebenso, wie das Ergebnis von dem, was wir sein wollen. Macht es also einen Unterschied, wenn ich das Autobiographische einführe in diesen Text?

Die Kamera zeigt die linke Hälfte der Erinnerung. Schwenk nach links. Im Archiv liegt vielleicht ein Anfang. „Früher verhielt sich die Sache so“, schrieb Majakowski an anderer Stelle.

Weil alles mit allem verbunden ist. Weil wir in einer gemeinsamen Welt leben, die als eine Vielfalt von Views und Interviews besteht, aus einer unendlichen Vielfalt. Die Uneindeutigkeit und Mehrstimmigkeit von Diskriminierung und Differenz hat Privilege bereits 1990 in die Bühne des filmischen Raums übersetzt.

In der Totale: Ungleichheit

Die Paradoxien von Identität und politischer Handlungsfähigkeit erscheinen in bunten Kostümen. Die Kamera zoomt alle Paradoxa und Widerspruchsfiguren näher heran. Sie tanzen.

Ohne Differenz keine gemeinsame Welt. Wie teilen wir Erfahrung und mit wem teile ich mein Privileg? Will ich mein Privileg teilen? Ähnlichkeiten, Verbindungen, Allianzen, Koalitionen. Immer wieder Anfänge, die Geschichte bleibt auf der Strecke. Die Erinnerung ist oftmals auch ein Privileg.

ZT: In the beginning sometimes I left messages in the street.

Das ist der erste Satz von Wittgenstein’s Mistress, dem Buch, das ich zufällig in diesem Sommer gerade lese, in dem David Markson die Geschichte einer Frau erzählt, die davon überzeugt ist und die Leser/in davon überzeugen will, dass sie die einzige Person ist, die noch auf der Erde lebt. Aus diesem Anfang ergibt sich keine Geschichte, oder? Und weiter im Buch: Time out of mind. Time out of mind meaning mad, or time out of mind meaning simply forgotten?

Stara žena. Die alte Frau, die ich mir vorstelle zu werden, hat weiße Falten im Gesicht. Sie sitzt vor einer großen Filmleinwand, allein und mit anderen, vergnügt und verstört. Sie sitzt auf der anderen Seite, auf der Seite derer, die nicht ermordet und vertrieben worden sind. Das Bild der Frau vor der Leinwand ist auf einem Monitor zu sehen, der sich über die Wand des Zimmers spannt. Auf der Leinwand:

PRIVILEGE
Ein Film von Yvonne Rainer und Vielen Anderen
Weißer Vorhang als Hintergrund. Zu hören: Ani DiFranco,
Splinter

Vergewaltigung
Anfang
Wiederholung
Namen
Autorschaft
Atomare Katastrophe
Anti-Atomkraftbewegung
Technologie
Nesigurnost
Erinnerung
Ähnlichkeit
Menopause
Autobiographie
Privilegierung
Whiteness
Ungleichheit
Geschichte
Uneindeutigkeit
Time out of mind
Allianzen
Verbindungen
Stara žena

Ein Text von Mo Bernold und Anderen Alternden


/

Monika Bernold ist Historikerin, Medien- und Kulturwissenschafterin und lebt in Wien.

Redaktion: Sabine Rohlf, Jo Schmeiser

Anmerkungen

1) Der Titel meines geplanten Projekts zur künstlerischen Forschung: Auto/Bio/Screen. Autorschaft und Agency in Porträtfilmen über Filmemacher/innen.