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Von Wien
Hannah Fröhlich, 2011
Besuch I
Wenn ich heute, nach gut einem Jahr in Tel Aviv, Wien besuche, so tue ich das, um meine Eltern, meine Geschwister und engsten Freunde zu sehen. Die „Behaglichkeit“ (m)einer gewohnten Umgebung – Wien bleibt immer Wien – ist eine Art Gegenpol zu all dem Neuen, das ich in Israel erleben darf. Es ist ein Paradox: Die Behaglichkeit einer Stadt, deren Bewohner/innen zu 27 Prozent FPÖ wählen, hat etwas Entspannendes für mich. Es ist eben meine Geburtsstadt und jener Ort auf dieser Welt, den ich noch immer am besten kenne. In all seinen Facetten. Auch wenn Wien natürlich so viel schöner wäre ohne Wiener. [1]
Wenn ich also auf Besuch komme, dann reise ich als Israelin aus, als Österreicherin ein und wenn ich wieder nach Israel fliege, als Österreicherin aus und als Israelin wieder ein. Es ist ein Privileg. Nirgends stehe ich an und es gibt keine langen Fragen.
Ankunft
Die ersten Wochen nach meiner Ankunft in Israel waren von positiven Überraschungen geprägt. Ich schrieb meinen Freunden in Wien: „Es ist so unglaublich, wie man hier willkommen geheißen wird. Die Leute – Kellner, Besucher bei meinem Cousin, Marktstandler, schlicht: alle – gratulieren einem, dass man gekommen ist und hier sein Glück versuchen will. Stellt euch das mal in Österreich vor! Oder als ich beim Innenministerium angestanden bin, da war ein netter Bediensteter dort, der die Nummern ausgegeben hat und sich bei jedem erkundigt hat, was er will/braucht, um ihn dann an die richtige Stelle zu verweisen. Er kam zu mir, ich sagte ihm: ich bin Olah Chadascha (Neueinwandererin) und brauche eine ID; er fragte mich: hast Du Fotos mit?, ich: ja; er: hast Du Dein Teudat Oleh (Einwandererausweis) dabei?, ich: ja; dann gab er mir die Nummer, sah mich an, lächelte und begann zu singen: Hevenu Shalom Alejchem. [2]
Von Wien
„Wien ist eine schöne Stadt“, schrieb ich in meinem allerersten Aufsatz in Ivrith ein paar Monate nach meiner Ankunft in Israel. „Die Straßen sind sauber, die historischen Gebäude werden gepflegt und bleiben erhalten. Die Straßennamen alter Nazis auch.“ Israelis können das kaum glauben.
2008, als die Wiener Jüdische Gemeinde ein neues Zentrum erbaute, in dem sowohl die jüdische Schule, als auch das Altersheim und die Hakoah gemeinsam Platz haben, musste die Straße erst umbenannt werden. Auf Betreiben der Gemeinde wurde die „Ichmanngasse“ zur „Simon Wiesenthal Gasse“. Und der aufwändige bürokratisch-politische Prozess, der dafür notwendig war, dauerte so lange wie die Fertigstellung des Baus: einige Jahre. Die Protokolle der diversen Sitzungen und dazugehörigen Anträge wären ein Kabarett, wenn die ganz normale österreichische Wirklichkeit nicht gar so schiach wäre. Die Ichmanngasse ist nur ein Beispiel.
„Gibt es in Österreich Antisemitismus?“, fragt mich Rina, die Ivrith-Lehrerin. „Er ist überall“, antworte ich. Es ist nicht der Antisemitismus, wie er sich durch die jährlich am „Yom HaShoah“ [3] gezeigten Dokumentationen über Nazideutschland in israelische Kinderköpfe einprägt. Es ist ein veränderter Antisemitismus.
Er versteckt sich hinter Doppelmoral, wenn es um Israel geht; hinter Einseitigkeit und Desinteresse, ja hinter der Weigerung, die Fakten – beispielsweise rund um die „Gaza Flottille“ – zur Kenntnis zu nehmen. Er versteckt sich hinter der Frage, ob sich denn Juden und Jüdinnen nun mehr jüdisch oder mehr österreichisch fühlen. Er versteckt sich auch hinter der Frage an mich, als Jüdin – nicht als Expertin politischer Fragen, diplomatischer Prozesse und historischer Zusammenhänge, denn alles das bin ich keinesfalls – wie ich denn glaube, dass der Nahostkonflikt gelöst werden wird. Die Liste ist endlos.
Und nein, es ist kein Zufall, dass gerade in Wien Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelte. „Wie kann man in Wien als Jüdin aufwachsen und nicht den Weg in eine Therapie finden“, stellt meine Freundin Sarah fest. „Wie recht Du hast“, lache ich. „Und das sind noch die Glücklichen.“
Zivilcourage I
Als Avi, gebürtiger Israeli und für einige Jahre beruflich in Wien, mit dem Fahrrad einen bösen Unfall hat, blutüberströmt auf der Straße liegt und sich nicht bewegen kann, dauert es mehr als eine Stunde, bis sich endlich unter all den Passant/innen eine junge Frau findet, die nicht achtlos vorbei geht, sondern die Rettung ruft und zu helfen versucht. Das Erlebnis, hilflos auf der Straße zu liegen und dabei so völlig missachtet zu werden, gräbt sich in Avis Erinnerung als etwas Charakteristisches ein: Die Menschen in Österreich sind kalt und herzlos.
„In Wahrheit hat Zivilcourage keinen hohen Stellenwert“, schreibt Ulrike Weiser. „Es beginnt bei den Kindern, die den Eltern nicht widersprechen sollen.“ Menschen, die im Alltag gegen kleine Regelverletzungen angehen, gelten als lästig: „Wer Leute auffordert, in der U-Bahn nicht überlaut zu telefonieren oder die verzweifelt dreinblickende junge Frau doch in Ruhe zu lassen, wird mit Kopfschütteln bedacht. Dabei ist die stumme Masse froh, dass sich einer, ein anderer, kümmert. Eine Kultur der Zivilcourage zu schaffen ist das eine, konkrete Anleitungen sind das andere. Seit den 1990er-Jahren, als der Rechtsextremismus traurige Konjunktur erlebte, gibt es in Deutschland viele Kurse, wo richtiges Verhalten gelehrt wird. Denn mitunter scheitert Zivilcourage aus denselben Gründen wie Erste Hilfe: kein Verhaltensrepertoire, keine Routine. In Österreich ist das Kursangebot allerdings dünn, die Polizei hat keine Personalressourcen, an Schulen läuft Zivilcourage unter dem Titel ‚soziales Lernenʻ mit“ [4] .
Zivilcourage II
Wer in Israel Hebräisch lernen will, besucht „Ulpan“. Der Basiskurs, Klasse A, dauert 5 Monate, wenn man jeden Tag von 8.00 bis 13.00 lernt. Nach erfolgreichem Abschluss kann man im Restaurant bestellen, ein Kleid kaufen, einer Freundin ein Geschäft empfehlen und sich beschweren. Letzteres gehört zu den ersten Dingen, mit denen Neueinwanderer/innen in Israel ausgestattet werden und kommt noch vor der Fähigkeit, die Nachrichten zu verstehen und die Zeitung zu lesen.
„Wir“ – Wiener/innen, Österreicher/innen – die wir in Österreich aufgewachsen sind, sind es irgendwie gewöhnt, dass Zivilcourage so gut wie nicht existiert und dass uns in einer Notsituation im besten Fall unsere Freunde und Familie beistehen. Das ist für uns mehr oder weniger normal, wir richten uns danach.
Als Jüdin in Wien aufgewachsen, ist es für mich weiters normal, nur bestimmten Menschen gegenüber offen zu sein. Darüber nachzudenken, ob es „sicher“ ist, Familienherkunft, religiöse Traditionen und Gewohnheiten zu erwähnen oder gar zur Diskussion zu stellen, und doch die meiste Zeit darüber zu schweigen bzw. so zu tun, als gäbe es diesen Aspekt meiner Persönlichkeit gar nicht, ist Alltag. Und das nicht, weil Neonazis um die Ecke biegen oder ich in irgendeiner anderen Art um mein Leben fürchten muss, sondern schlicht, weil es zu unangenehmen Situationen führt, in denen auf einmal nichts anderes mehr Platz hat als diverse Projektionen, Abwehrformen oder gar vermeintlich politische Diskussionen zu Israel und dem Nahostkonflikt. Manchmal, ja auch das gibt es, ist es fruchtbar, ja sogar lustvoll, sich auf eine Diskussion einzulassen; aber zumeist ist das Gegenteil der Fall. Der Wissensstand in Österreich ist erschreckend niedrig; die größten „Kritiker“ Israels waren noch nie im Land und die vehementesten Gegner von „Religion, egal welcher“ sind zu Weihnachten bei Mama und Papa.
Zivilcourage III
Als ich im Zuge meiner Vorbereitungen zur Emigration nach Israel mit Avi sprach, meinte er: „Du wirst sehen – was mir in Wien passiert ist, das gibt es nicht in Israel; hier kümmert man sich um einander. Manchmal sogar zu viel.“
Lior, ein lieber Freund, wohnhaft in Jerusalem und das schon seit 20 Jahren, erzählte mir, er benützt die öffentlichen Verkehrsmittel aus Prinzip. „Erstens“, erklärt er mir, „weil die in Israel ziemlich dürftig sind und man sie stärker frequentieren muss, damit sie verbessert werden; aber eigentlich deshalb, weil das Taxifahren einfach nicht zum Aushalten ist. Ich hab keine Lust, dauernd meine persönlichen Grenzen verteidigen zu müssen.“ Als er das letzte Mal im Taxi saß, war seine Schwester dabei; die Fahrt war lang und die leicht übergewichtige Verwandte aß etwas. Der Taxifahrer unterbrach das Gespräch der beiden, wies auf den Fettgehalt in ihrem Essen hin und begann Diättipps zu geben. „Weißt Du“, sagt Lior weiter zu mir. „Ich bin ja ein geduldiger Mensch. Aber meine Schwester hat keine Nerven. Sie hat ihn ziemlich heftig angefahren: Entschuldigung, kennen wir uns? Was geht Sie das an?“ Da muss ich lachen. „Worüber regst Du Dich auf“, sage ich zu Lior. „In Israel kümmern sich die Menschen eben umeinander.“ Und dann lachen wir beide.
Besuch II
Wenn ich heute Wien besuche, schmunzle ich, wenn ich gefragt werde, ob es denn sicher ist, in Israel zu leben. Oder wie ich denn der „Unterdrückung“ der arabischen Minderheit zusehen kann. Das fragt nur, wer noch nie hier war. Nirgends auf der Welt wird so viel für den Schutz und die Sicherheit der Bewohner/innen getan, wie in Israel. Das ganze Land hat dreisprachige „Ortstafeln“ – jede Straße, jedes Verkehrsschild sowohl Ivrith, als auch Arabisch und Englisch. Fernsehprogramme sind Arabisch, Russisch, Spanisch, Englisch und Ivrith. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem ich wohne, ist eine Synagoge, um die Ecke steht eine Kirche und um die andere Ecke eine Moschee. Manchmal höre ich alle drei auf einmal: Gesang vom Untergeschoss, die Kirchenglocken und den Muezzin. Samstags sind die öffentlichen Grillplätze am Strand voller Menschen – das bunteste Bild, das man sich nur vorstellen kann. Ich erinnere mich an eine ORF-Doku über die Spannungen, ja den Kleinkrieg zwischen den unterschiedlichen Benutzer/innen der Donauinsel.
Wir leben hier alle zusammen; wir teilen uns dieses winzige Stück Land und leben vielfältig und facettenreich unsere verschiedenen Religionen und Nicht-Religionen. Und seit der Errichtung der Sperranlage 2003-2005, wurden 99 Prozent der (Selbstmord)Anschläge verhindert – übrigens auch ein Faktum, das in Österreich, in Europa nicht zur Kenntnis genommen werden will. [5]
Besuch III
Wenn ich heute Wien besuche, nehme ich ein Stück verinnerlichtes Israel mit. Es ist die innere Sicherheit, die entsteht, wenn unwichtig werden darf, ob man jüdisch ist oder nicht, weil alle um einen herum diesen Aspekt – vielfältig, bunt, divers, auf individuelle Art eben – teilen. Wir europäischen Einwanderer/innen kommen aus durch die Shoah fast ganz ausgelöschten und bis heute winzigkleinen jüdischen Gemeinden; es sind vielleicht ein paar tausend Menschen in unseren Herkunftsstädten, die sich alle mehr oder weniger kennen; alles ist klein und bewacht und notwendigerweise sehr verschlossen. In Israel atmen wir frei. Wir dürfen so viel und so wenig jüdisch sein, wie wir das auch immer jeweils für uns definieren – wie wir gerade wollen. Niemand fragt danach. Denn es betrifft uns alle. Es spielt keine Rolle mehr. Es ist ohnehin da.
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Hannah Fröhlich lebt seit 2009 in Tel Aviv und arbeitet als Übersetzerin.
Redaktion: Sabine Rohlf, Jo Schmeiser
Anmerkungen
1) Georg Kreisler, „Wien ohne Wiener“, Georg Kreisler, geboren 1922 in Wien, ist Musiker, Kabarettist und Schriftsteller. 1938 flüchtete er mit seinen Eltern über Genua und Marseille in die USA. 1943 wurde Kreisler US-amerikanischer Staatsbürger. Als amerikanischer Soldat und Dolmetscher verhörte er NS-Kriegsverbrecher wie Julius Streicher. Nach Kriegsende arbeitete Kreisler in Hollywood mit Charlie Chaplin. 1955 ging er zurück nach Wien und wurde Teil des „Namenlosen Ensembles“ um Gerhard Bronner, Peter Wehle und Helmut Qualtinger. Nach München, Berlin, Hof und Basel lebt Kreisler heute in Salzburg. Vor seinem 75. Geburtstag verbat er sich Gratulationen seitens des Staates Österreich, „weil sich die Republik Österreich in den über vierzig Jahren, seit ich nach Europa zurückgekehrt bin, noch nie um mich geschert hat.“
http://de.wikipedia.org/wiki/G...
2) hevenu – wir brachten (lehavi)
shalom – frieden
aleichem – euch
Wir bringen euch den Frieden. Bzw. auch: Wir grüßen euch.
3) Holocaust Gedenktag
4) Ulrike Weiser, „Zivilcourage – Wie mutig sollen wir sein?”, in: Die Presse, 20.9.2009, http://diepresse.com/home/pano...
5) Während der Fertigstellung meines Textes beendeten der blutige Terroranschlag des Dschihad auf einen Linienbus nach Eilat, der trotz bekundeter Waffenruhe fortdauernde Raketenbeschuss der Hamas aus dem Gazastreifen sowie die allgemeinen politischen Umwälzungen in der arabischen Welt die ruhigste und sicherste Zeit, die Israel in gut 10 Jahren gesehen hatte.
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