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Besuch in Deutschland
Hannah Arendt, 1950

Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen als handele es sich um bloße Meinungen. […] Auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentleman’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Meinungen nun wirklich nicht ankommt. Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden […], sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, […] dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes.

Man hat es hier nicht mit Indoktrinationen zu tun, sondern mit der Unfähigkeit und dem Widerwillen, überhaupt zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden.

Man kann nicht einmal sagen, daß die Ideologien deshalb überlebt hätten, weil nichts besseres vorhanden gewesen wäre; es ist eher so, dass die Deutschen nach ihrer Erfahrung mit der Nazi-Ideologie zu der Überzeugung gelangt sind, daß es eben jede Ideologie tun würde. Die Parteiapparate sind vor allem darauf ausgerichtet, ihren Mitgliedern Jobs und Vorteile zu verschaffen, und sie haben auch durchaus dazu die Macht. […] Weit davon entfernt, jegliche Art von Initiative zu ermuntern, fürchten sie sich vor jungen Leuten mit neuen Ideen […]. Folglich findet das wenige, das es an politischem Interesse und an politischer Diskussion gibt, außerhalb der Parteien und außerhalb der öffentlichen Institutionen statt. […] Die Parteien sind nicht nur dabei gescheitert, die Unterstützung der deutschen Intelligenz zu gewinnen, sondern sie haben auch die Massen davon überzeugt, daß sie deren Interessen nicht vertreten.

Das einfachste Experiment besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich daß man Jude sei. Hierauf folgt in der Regel eine kurze Verlegenheitspause; und danach kommt keine persönliche Frage, […] sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten […]; und wenn die Versuchsperson dieses kleinen Experiments zufällig gebildet und intelligent ist, dann geht sie dazu über, die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen, womit sie stillschweigend zu verstehen gibt, daß die Leidensbilanz ausgeglichen sei.

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„Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes“ von Hannah Arendt erschien auf Deutsch in: Marie Luise Knott (Hg), Zur Zeit. Politische Essays, © Rotbuch Verlag, Hamburg 1999 (1986). Zitate auf Seite 47, 48, 69 und 44. Arendt schrieb den Text nach ihrer Deutschlandreise (November 1949 bis März 1950) im Auftrag der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction. Das englische Original „The Aftermath of Nazi Rule. Report from Germany“ erschien im Oktober 1950 in der Zeitschrift „Commentary“:
http://www.commentarymagazine....